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Archiv-Artikel

Eine schnelle Reise zum Mittelpunkt der Welt

Mit Gerhard Schröder auf Kanzlerbesuch in den USA – zack, zack und los. Gesamtreisedauer 52 Stunden, davon 23 in der Luft, vier in Chicago, zwei in Jackson – und 40 Minuten im Oval Office. Super. Fragt sich nur: Wovor rennt Schröder weg?

AUS CHICAGO, WASHINGTON UND JACKSON JENS KÖNIG

Das irritierendste Detail dieser ganzen Schröder-Reise in die USA ist ein kleines Plastikmesser. Es ist Samstagvormittag, 11 Uhr deutscher Zeit, Rückflug von Washington nach Berlin, irgendwo über Großbritannien. Der Steward im Airbus 310 der Luftwaffe, ein Herr Oberfeldwebel, serviert das Frühstück, aus der daneben liegenden weißen Serviette fällt plötzlich dieses Plastikmesser. Billigbesteck im Kanzlerflieger? Auf dem Hinflug von Berlin nach Chicago lag neben dem Teller noch edles Stahlbesteck samt zwei schweren Messern.

Eine Nebensächlichkeit? Pah! Das kleine Plastikmesser steht für die philosophische Frage jeder Kanzlerreise ins Weiße Haus nach Washington: Ist der deutsche Regierungschef beim US-Präsidenten der Mittelpunkt der Welt? Oder interessiert sich die Welt für diesen Gerhard Schröder oder wie auch immer die Kanzler heißen mögen, einen so genannten Scheißdreck? Dreht die Welt sich einfach weiter und wird in drei Tagen zwischen einem Schröder-Hinflug nach Amerika und einem Schröder-Rückflug aus Amerika ein wenig unsicherer, weil beim Einkreisen von Ussama Bin Laden in Pakistan irgendwas nicht nach Plan läuft, so dass der Kanzler plötzlich mit einem Plastikmesser frühstücken muss?

Wahrscheinlich gibt es für das Plastikmesser eine ganz einfache Erklärung. Auf einer Kanzlerreise gibt es für alles eine Erklärung. Eine solche Reise ist deutsche Wertarbeit. Ein Musterbeispiel für perfekte Organisation. Drei Tage Schröder in den USA, exakte Dauer 52 Stunden, davon 23 Stunden in der Luft, 5 Flüge, 3 Städte, Washington, Chicago und Jackson, Mississippi, 2 Bundesstaaten, 3 Zeitzonen – da ist jeder Schritt genau geplant. Ordnungsgemäß festgehalten in einem 88-seitigen Programmheft. Alles ist dort notiert. (Alles!) Name und Funktion jedes Mitreisenden, vom Kanzler bis zum letzten Bordmechaniker, wer in Washington im Nobelhotel Ritz Carlton in welchem Zimmer schläft (Schröder in Suite 834), in welcher Reihenfolge die Wagen des Kanzlertrosses fahren, dass im Auto des Kanzlers immer ein Mann vom Secret Service sitzt, dass der Fahrer des einen Journalistenbusses in Washington Seif Abdelaziz heißt und seine Handy-Nummer 703-81… (äh, Staatsgeheimnis!) lautet. Steht etwas nicht in dem Heft oder ändert sich im Laufe der Reise, wird nicht etwa improvisiert. Es wird nachorganisiert. Die Einlasskontrolle am Northwest Gate des Weißen Hauses für die Kanzlerpresse ist plötzlich nicht mehr Freitag, 11.10 Uhr, sondern Freitag, 11.15 Uhr. Schriftlicher Hinweis der Pressestelle der deutschen Botschaft: „Es gibt nur einen gesammelten Einlass. Nach Verlassen des Geländes ist ein erneuter Zugang zum Gelände des Weißen Hauses nicht möglich.“ Ein falscher Schritt, eine kleine Verspätung – schon ist man als Journalist raus aus dem Rennen. Der Kanzler wartet nicht. Die Karawane zieht weiter.

Hat das nicht Kohl immer gesagt?

Schröder hetzt. Wovor rennt er weg? Vor Münte? Der Maut? Der Hamburgwahl? Schröder fliegt Donnerstagmorgen in Berlin los. 10 Stunden Flug nach Chicago. Als er landet, ist es 11 Uhr Vormittag. Der Tag beginnt von vorn. Chicago in knapp vier Stunden, eine halbe Stunde unter Plan. Angebliche Grundsatzrede vor dem „Council on Foreign Relations“. Danach kurzes Mittagessen. Anschließend Besuch beim Technologieriesen Motorola. Schröder bekommt supermoderne Handys mit Musik vorgeführt. Er hält das Handy von seinem Ohr weg. Wahrscheinlich denkt er, Scharping ist dran. Dabei ist nur Musik von „Coldplay“ zu hören. „Oh“, sagt Schröder, „was mache ich, wenn ich jetzt telefonieren will?“

Motorola hat der Kanzler in 40 Minuten abgehakt. Fazit: Schröders Unternehmensbesuche sind nicht tiefschürfender als Honeckers Betriebsbesichtigungen. In der zweiseitigen Presseerklärung von Motorola, die beim Hinausgehen verteilt wird, steht: „Der Kanzler informierte sich über die 75-jährige Unternehmenshistorie.“ Schon wenn Schröder wieder auf der Straße steht, weiß er doch nicht mal mehr, wie Motorola geschrieben wird.

Auf, auf nach Washington! Zu Bush! Wieder zwei Stunden Flug. Am Abend im Hotel noch schnell ein Hintergrundgespräch mit den mitreisenden Journalisten und den deutschen Washington-Korrespondenten. Alles streng vertraulich. Über 80 Leute sitzen da rum. Es fällt kein einziger Satz, den man sich merken sollte. Aber nach deutscher Zeit ist es ja jetzt auch schon Freitagmorgen, 4 Uhr. Das Bundespresseamt verteilt im Ritz Carlton noch schnell ein paar Broschüren zur Agenda 2010. Hoffentlich liest die hier keiner.

Nach ein paar Stunden Schlaf endlich Bush. Deswegen ist er doch hier. Für den Kanzler läuft alles super. 40 Minuten Gespräch im Oval Office, dann noch mal 45 Minuten gemeinsames Mittagessen. Mehr geht kaum. Als Johannes Rau vor zwanzig Jahren mal beim amerikanischen Präsidenten war, stand er nach 10 Minuten schon wieder vor der Tür. Es war ihm peinlich. Damit die Journalisten es nicht merken, ging er 10 Minuten aufs Klo und zeigte sich erst dann der Presse.

Zur kurzen Pressebegegnung im Oval Office mit Bush und Schröder dürfen nur zwölf deutsche Journalisten. Der Rest der Entourage steht draußen im kleinen Press Briefing Room und starrt auf kleine Monitore, auf denen das Ganze ein paar Minuten zeitversetzt übertragen wird. Das hat Folgen für die Berichterstattung der Weltpresse. Zwei Tage danach schreibt die BamS, beim Mittagessen von Schröder und Bush hätte es Krabben im Teigmantel gegeben, im Tagesspiegel steht was von Maine-Hummer.

Schröder strahlt, als er das Weiße Haus verlässt. Wieder rein ins Flugzeug, nach Jackson, Mississippi. Dort eröffnet er die Ausstellung „The Glory of Baroque Dresden“. Vier Stunden Flug hin und zurück für zwei Stunden Aufenthalt. Alle sind übermüdet. Die Reise wird mehr und mehr zur Klassenfahrt. „Gibt’s in Mississippi eigentlich noch die Sklaverei?“, fragt ein Journalist den stellvertretenden deutschen Konsul. Der Konsul versteht den Witz nicht. Er ist noch unter Kinkel ins Auswärtige Amt gekommen.

Schröder fliegt durch die Ausstellung. 700 Kunstgegenstände in 25 Minuten. Noch eine launige Rede vor der Hautevolee von Jackson („Herr Gouverneur, keine Angst, ich werde in Mississippi nicht zur Wahl antreten“) und ab geht’s im schwarzen Cadillac mit Blaulicht und Sirenen zurück zum Flughafen. Weiß der Kanzler, wo er gerade war?

Die altgedienten Reporter kommen ins Schwärmen. Unter Kohl seien solche Reisen entspannter gewesen. Irgendein Kulturprogramm sei immer drin gewesen, ein Museumsbesuch oder eine Stadtrundfahrt, wobei Kohl am liebsten vorne rechts neben dem Fahrer gesessen habe. Aber Schröder? Der sei schon ein paar Mal in Kairo gewesen, habe aber noch nie die Pyramiden gesehen.

Schröder hat Angst vor Bildern, die nach Urlaub aussehen. Kohl 1997 in Australien in seiner riesigen Badehose – das hat in Deutschland zwar die Zeltproduktion angekurbelt, aber es war auch der Anfang vom Ende des Dicken.

Der Einzige, der sich auf dieser USA-Reise dem Höllentempo entzieht, ist Jim Rakete. Deutschlands berühmtester Popfotograf arbeitet seit Monaten an einem großen Fotoessay über Schröder. Während die anderen Fotografen mit großen Teleobjektiven durch die Gegend rennen, steht Jim Rakete daneben und wartet auf das richtige Motiv. Um seinen Hals hängen zwei kleine Leica-Kameras. Er wartet oft sehr lange. Fotografisch ist diese Reise keine Ausbeute für ihn. Alles sei so starr, sagt er. So inszeniert.