: Zugang zu Arbeit
Fünf Fragen zur künftigen Sozialpolitik der EU
taz: Gewerkschaften und Sozialisten fordern, dass die Vollbeschäftigung als Ziel in die Verfassung der EU aufgenommen werden müsse. Ist das noch sinnvoll? „Arbeit für alle“ wird doch zunehmend unrealistisch.
Stephan Lindner: Die sozialen Rechte sind im Entwurf der Verfassung und auch in der Grundrechte-Charta viel zu schwach ausgeprägt. Die Forderung nach Vollbeschäftigung ist zwar ein altes Gewerkschaftsziel des industriellen Zeitalters, aber in einer modernen Form muss sie in der Verfassung enthalten sein. Man könnte es offener formulieren: Jeder Mensch soll das Recht auf grundsätzlichen Zugang zu Arbeit und Partizipation am Wohlstand der Gesellschaft haben.
Die Politik der Liberalisierung erschwere den Zugang vieler Menschen zu kostenloser Bildung und Gesundheitsversorgung, bemängelt Attac. Ist die Bereitstellung dieser öffentlichen Güter im Verfassungsentwurf ausreichend berücksichtigt?
In den Artikeln 34 bis 36 der Grundrechte-Charta lesen wir zwar über soziale Dienste und soziale Sicherheit. Aber diese Formulierungen sind reichlich undeutlich. Nach einklagbaren materiellen Rechten in der sozialen Sphäre sucht man weitgehend vergebens. Die Organisation „Euromärsche“, die mit Attac zusammenarbeitet, fordert zum Beispiel Folgendes: Jeder EU-Bürger soll das Recht auf ein existenzsicherndes Mindesteinkommen haben. Dieses sollte die Hälfte des statistischen Pro-Kopf-Einkommens plus Warmmiete betragen – für Deutschland etwa 1.000 Euro pro Monat.
Existiert für Sie aufgrund der historischen Entwicklung ein Modell des europäischen Sozialstaates, das als Gegenentwurf zur neoliberalen Herrschaft des Marktes taugt?
In Großbritannien sind die sozialen Rechte nicht besonders ausgeprägt. Und die südeuropäischen Staaten haben einen enormen Nachholbedarf.
Die soziale Marktwirtschaft Deutschlands, Frankreichs, der Beneluxländer und Skandinaviens kann ebenfalls keine Orientierung liefern?
Auf den Sozialsystemen und Verfassungen dieser Länder müssen wir natürlich aufbauen. Doch zeigt sich hier, dass man sie mehr und mehr aushöhlt. Ich kann in der Verfassungsdiskussion nur wenige Ansätze dafür erkennen, dass der Deregulierung Einhalt geboten wird. Zum Beispiel besteht die Tendenz, Unternehmensgewinne und Kapitaleinkommen steuerlich zu entlasten, statt sie zur Finanzierung der Sozialsysteme heranzuziehen.
Haben Sie die Hoffnung, die Verfassung noch in Ihrem Sinne beeinflussen zu können?
Realpolitisch betrachtet, gibt es nicht viele Möglichkeiten. Würde die Grundrechte-Charta jetzt noch einmal aufgeschnürt, bestünde eher die Gefahr einer Verschlechterung. Außerdem stehen wir als Globalisierungskritiker mit unserer Europa-Arbeit noch am Anfang der Diskussion. Es geht um die mittel- und langfristige Einflussnahme mit dem Ziel, den neoliberalen Grundkonsens der EU-Politik zu erschüttern. Dabei muss man auch über die Politik der Zentralbank und den Maastrichtvertrag neu nachdenken. Denn nur mit Sozialpolitik kann man die Folgen einer verfehlten Wirtschaftspolitik nicht ausgleichen. INTERVIEW: HANNES KOCH