: Grenze oder Region?
Welche Zukunft hat das deutsch-polnische Grenzgebiet? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob und wie es zu gemeinsamen und regionalen Identitäten an Oder und Neiße kommen wird
von UWE RADA
Auf der einen Seite ist der schrumpfende Osten. Städte wie Frankfurt (Oder), Guben und Görlitz haben seit der Wende jeden fünften Einwohner verloren. Die Industriebetriebe, mit denen die DDR an der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ einst wirtschaftliche Stärke demonstrierte, sind dicht oder haben den größten Teil ihrer Mitarbeiter entlassen. Die neu gegründeten Unternehmen haben nicht nur mit westdeutschen Tarifen zu kämpfen, sondern auch mit der polnischen Konkurrenz. Neben der wirtschaftlichen Randlage, meinen Soziologen, hat sich im deutschen Grenzgebiet zu Polen auch eine „Peripherie in den Köpfen“ herausgebildet.
Auf der andern Seite liegt „Dziki Zachód“, der „Wilde Westen“. So nannte man in Polen die ehemals deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße, die nach dem Zweiten Weltkrieg polnisch geworden waren. Hierher zog es Vertriebene aus Lemberg und Wilna, Neusiedler aus den überfüllten Dörfern Zentralpolens sowie Abenteurer auf der Suche nach dem schnellen Geld. Bis heute ist der „Wilde Westen“ nicht vollständig in Polen angekommen. Wegen des heruntergekommenen Zustands vieler Häuser und Höfe ist es keine Seltenheit, dass sich Reisende aus Warschau, Posen oder Breslau für Städte wie Słubice, Gubin und Zgorzelec schämen. Polens „Wilder Westen“ ist vielen Polen ebenso fremd wie den Berlinern, Münchnern oder Hamburgern das deutsche Grenzgebiet.
Wer sich am Vorabend der EU-Osterweiterung tradierter Klischees oder trostloser Zukunftszenarien versichern will, ist hier also goldrichtig. Im deutsch-polnischen Grenzgebiet findet man alles: „Begleitagenturen“, in denen Prostituierte aus der Ukraine und Belarus arbeiten. Zwielichtige Gestalten, deren Grenzübertritt keinen Kulturtransfer bedeutet, sondern den Schmuggel gestohlener Fahrräder oder unverzollter Zigaretten. Jugendliche ohne Hoffnung, deren einziger Traum darin besteht, so schnell wie möglich wegzukommen.
Wer will, sieht aber auch anderes: deutsche Studenten der Europauniversität Viadrina zum Beispiel, die ganz bewusst nicht in Frankfurt leben, sondern in den Studentenwohnheimen in Słubice. Überzeugungstäter wie die Bürgermeister von Görlitz und Zgorzelec, die schon heute ein Europa ohne Grenzen fordern, weil sie wissen, dass beide Städte nur eine Zukunft haben, wenn sie nach den Jahrzehnten der Teilung wieder zusammenwachsen. Künstler, die mit ihren Projekten Brücken schlagen und dabei längst die ausgetretenen Pfade der offiziellen deutsch-polnischen Freundschaft verlassen haben.
Im Grenzgebiet, das zeigt die Parallelität dieser Sichtweisen, verlaufen die Grenzen nicht mehr nur zwischen Deutschland und Polen, sondern auch quer dazu: zwischen europäischen Pionieren und mutlosen Euroskeptikern. Zwischen Regionen mit Anschluss an die Zentren und solchen, die längst peripher gefallen sind. Zwischen Menschen, die auf dem Sprung sind, und denen, die längst aufgegeben haben. „Zerschnittene Region“ hat der polnische Publizist Adam Krzemiński das 465 Kilometer lange Gebiet zwischen Stettin und Zittau einmal genannt und damit nicht nur die Einschnitte gemeint, die die Konferenzen von Jalta und Potsdam für eine Region bedeutet haben, die bis 1945 nie Grenzregion gewesen war.
Es ist diese Überlagerung von nationalen, kulturellen und geografischen Gegensätzen, die das deutsch-polnische Grenzgebiet nicht nur von anderen europäischen Peripherien wie dem Nord-Pas-de-Calais, Mittelengland oder dem italienische Mezzogiorno unterscheidet, sondern auch zu einem unverwechselbaren, europäischen Laboratorium macht. Die Fragen, die es zu untersuchen gilt, liegen auf der Hand. Wird das Gebiet, wie es Politiker gerne behaupten, mit der Osterweiterung der Europäischen Union wieder vom Rand in die Mitte rücken? Oder wird es, wie einige Kritiker fürchten, zu einer Transitwüste, die nur noch betritt, wer unbedingt muss? Was wird man – neben den Schmugglern und Studenten – in Zukunft entdecken?
Mit diesen Fragen im Gepäck haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler, Ethnologen und Stadtplaner auf beide Seiten von Oder und Neiße begeben, um die möglichen, zu vermeidenden und wünschenswerten Szenarien für die Zukunft des Grenzgebiets zusammenzutragen. Ihr vorläufiges Resümée: Eine gemeinsame Bewältigung der Krise ist ebenso denkbar wie ein erneuter Rückgriff auf nationale Stereotype. Dort, wo das alte und das neue Europa zusammenwachsen sollen, ist also noch vieles offen.
Doch es gibt auch guten Grund zur Annahme, dass der Prozess der deutsch-polnischen Annäherung – trotz Irakkriegs und der Wahlerfolge der Populisten – belastbar geworden ist. Den Begegnungen an Basaren und Tankstellen sind längst andere gefolgt. Polnische Schüler gehen auf deutsche Schulen, und mancher Deutsche hat inzwischen begonnen, Polnisch zu lernen. Selbst die Alten sind nicht mehr die Erbfeinde von einst, sondern haben – als Vertriebene – ein gemeinsames Schicksal entdeckt.
Damit aus diesen deutsch-polnischen Begegnungen in Zukunft eine grenzüberschreitende Identität erwächst, bedarf es allerdings nicht nur eines erfolgreichen Verlaufs der europäischen Integration, sondern auch eines neuerlichen Schubs an Regionalisierung, einer Regionalisierung, die mehr ist als nur die Dezentralisierung der Verwaltung.
Dass es einen ersten auf polnischer Seite gegeben hat, gehört zu den Überraschungen der deutsch-polnischen Nachwendegeschichte. Von den über 1.200 Vereinen, die sich in Polen mit Lokalgeschichte beschäftigen, so hat es der Historiker Robert Traba festgestellt, hat ein Großteil seinen Sitz im polnischen Norden und Westen, in jenen Gebieten also, die bis 1945 deutsch waren. „Die Identifikation mit der Kultur und der unverlogenen Geschichte ihrer Entstehung, folglich auch mit der Anwesenheit des ‚Deutschtums‘ in unserer unmittelbaren Nachbarschaft“, folgert Traba, „bietet die Chance einer Entzauberung des negativen Stereotyps des Deutschen.“
Regionalisierung, das ist aber nicht nur lokalgeschichtliche Spurensuche oder die Pflege des kulturellen Erbes. Regionalisierung bedeutet auch, der abstrakten Idee Europa konkrete Gestalt zu verleihen. Dazu gehören Projekte wie der Europagarten in Frankfurt und Słubice ebenso wie der Bau einer neuen Altstadtbrücke zwischen Görlitz und Zgorzelec oder die Fertigstellung des Oder-Neiße-Radwegs. Nicht immer müssen diese Projekte dabei den räumlichen Grenzen von Euroregionen oder historischen Kulturräumen wie Westpommern oder Niederschlesien entsprechen. Im Europa der Regionen ist vieles möglich und alles offen.
Und wie in einem richtigen Labor kann es auch in der Grenzregion zu Verpuffungen oder gar zu kleinen Explosionen kommen. Aber das gehört dazu, wenn es um Entdeckungen geht, zumal in einem Gebiet, das ganz im Gegensatz zu seinem bisherigen Schattendasein bald in den Mittelpunkt geraten wird – nicht nur mit der Osterweiterung, sondern auch bei ihrem Scheitern.