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Archiv-Artikel

Tag des schiitischen Martyriums

Religiöse Inbrunst in Bagdad und Kerbela. Plötzlich eine Explosion, kurz darauf Schüsse. An einem Dienstagvormittag sterben mindestens 150 Menschen

AUS BAGDAD UND KERBELA INGA ROGG

Dumpf erklingen die Schläge der Trommeln. Schwarz gekleidete Männer und Jungen folgen den Trommlern in einer langen Prozession über die Brücke von Kadhimiya im Norden von Bagdad. Dabei schlagen sie sich im Rhythmus der Trommeln mit Geißeln auf Schultern und Rücken. Über ihnen wehen die schwarzen, roten und grünen Fahnen der Schiiten sowie die pinkfarbene ihres Viertels. Ein Rezitator erinnert an das Martyrium von Hussein, des Enkels des Propheten Mohammed. Es ist Aschura, der höchste Feiertag für die schiitischen Muslime.

An diesem Tag im Jahr 680 fand Hussein im Kampf gegen den sunnitischen Kalifen Muawiya bei Kerbela den Tod. Zu Fuß sind die Gläubigen vom schiitischen Armenviertel Medina Thaura nach Kadhimiya gekommen, wo der siebte und neunte Imam der Schiiten begraben sind. Es ist ein bewegender Anblick, voller religiöser Inbrunst. Plötzlich eine Explosion. Kurz darauf Schüsse. Es ist kurz nach 10 Uhr Ortszeit. In Panik rennen Frauen über die Brücke zurück. Ordner der schiitischen Milizen, die die Prozessionen begleiten, beruhigen sie. Doch für die Prozession ist kurz nach der Brücke erst einmal Schluss. Vor der Moschee in Kadhimiya wurde ein Anschlag verübt. Dabei wurden mindestens 65 Gläubige getötet, die lokale Polizei spricht von bis zu 200 Toten.

Bei beinahe zeitgleich verübten Anschlägen vor den beiden Heiligtümern in Kerbela werden mindestens 85 Gläubige getötet. Wie schon vor einem Monat im kurdischen Arbil, als bei einem doppelten Selbstmordanschlag mehr als hundert Menschen getötet wurden, haben die Täter einen der wichtigsten islamischen Feiertage gewählt, und wieder sind die Opfer Muslime.

„Ich bin so glücklich“, hatte wenige Minuten zuvor noch Behiye gesagt. „Endlich können wir unseres Imams gedenken, ohne dass uns jemand daran hindert“, sagt die Frau. Jahrelang hatten die Schiiten des Irak ihre Riten anlässlich Aschura nur im Privaten ausüben können. So sehr misstraute Saddam Hussein den Schiiten, dass er selbst ihre religiösen Praktiken in den Untergrund drängte. Sieben Söhne hat Behiye im Krieg gegen das Nachbarland Iran verloren, in dem die irakischen Schiiten oft an vorderster Front gegen ihre Glaubensbrüder aus dem Nachbarland kämpften. In Strümpfen ist die alte Frau gekommen. Es war ihr ganz persönliches Opfer im Irak, in dem die Glaubensausübung nach jahrzehntelanger Repression endlich frei ist. Dass das in Zukunft so bleiben soll, hat der Regierungsrat in die von ihm ausgearbeitete Übergangsverfassung geschrieben.

Pritschenwagen mit Verletzten und Ambulanzen kommen über die Brücke gerast. Ein Polizeikonvoi bahnt sich mit Martinshorn den Weg durch die Menge. Zehntausende, vielleicht hunderttausende haben von überall im Land den Weg nach Kadhimiya gemacht. Die religiöse Stimmung beginnt zu kippen. Unter die Sprechgesänge beginnen sich Rufe zu mischen, die die Amerikaner für die Anschläge verantwortlich machen. Frauen und Männer beginnen zu weinen. „Warum tut man uns das an“, klagt eine Alte.

Auch in Kerbela macht man die Amerikaner für den Anschlag verantwortlich. Sie seien unfähig, für Sicherheit zu sorgen, sagt ein einflussreicher Geistlicher. Aus Furcht vor Anschlägen hatten bereits während der gesamten ersten zehn Tage des islamischen Monats Muharram erhöhte Sicherheitsvorkehrungen gegolten. Zu tausenden strömten die Gläubigen nach Kerbela, der Stadt, die sie mehr lieben als das Ehrfurcht einflößende Nadschaf. Mehrere zehntausend kamen aus dem Iran.

Noch vor zwei Tagen waren morgens die Plätze vor den Moscheen mit Wasser gewaschen. Überall gab es Stände mit Trinkwasser, niemand sollte an diesen Tagen an Wassermangel leiden, wie es seinerzeit Hussein und seine Anhänger taten. Prozessionen von sich Geißelnden ziehen klagend durch die Stadt, Frauen in schwarzen Tschadors schlagen sich auf die Brust. Um Anschläge zu verhindern, wurde die Polizei von Kerbela durch Einheiten aus anderen Landesteilen verstärkt, die Zufahrtstraßen abgeriegelt. Zudem wurden allein in Kerbela 8.000 Milizen verschiedener schiitischen Fraktionen abgestellt. Wie schon im vergangenen Jahr zeigte sich darin erneut die Macht der schiitischen Geistlichen. Sie, aber auch die Inbrunst der Schiiten, die sich in diesen Tagen Bahn bricht, wird in den anderen Landesteilen oft mit Misstrauen betrachtet, viele im Irak sehen darin Fanatismus.

Auch in Tagen vor Aschura war das Misstrauen gegen die Amerikaner zum Greifen. „Hussein ist der Funke“, sagte ein Pilger. „Ein Wort von unseren Gelehrten und wir sind zum Aufstand bereit.“