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Archiv-Artikel

Jugendbewegung aus Essen

An der Essener Dore-Jacobs-Schule üben sich StudentInnen seit der Weimarer Republik in ganzheitlicher Gymnastik. Die Gründerin war eine sozialistische Jüdin, sie starb heute vor 25 Jahren

Bundmitglieder lebten in kommuneartigen Häusern und Frauen emanzipierten sich von ihren Männern

VON MICHAEL HAERING

“Frei werden und schlagen, wie so ein Samurai-Kämpfer“, ruft die Ausbilderin im Fach Bewegungsbildung Zidra Mikelsons den StudentInnen der Dore-Jacobs-Schule zu. Die Stimme der Lettin hallt durch die Mehrzweckhalle der zum Sport- und Kulturzentrum umgebauten Zeche Helene in Essen Altenessen. 19 Studentinnen und zwei Studenten der Oberstufe im Alter von 19 bis 35 Jahren schwingen meterlange Holzstäbe durch den Raum, so dass man hoffen muss, dass sie sie fest im Griff haben. „Keine Angst vor der eigenen Kraft und den Schwung immer von unten holen – auch im Denken,“ fasst sie die ganzheitliche Bewegungslehre der heute vor 25 Jahren verstorbenen Dore Jacobs zusammen.

Die Autofahrt von der neuen Ausbildungsstätte zum alten Stammhaus der ehemaligen „Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung“ ist eine Reise in die Vergangenheit. Am Ende eines lichtdurchfluteten Tanzsaales des ganz aus Holz gebauten Blockhauses stehen Utensilien für Körper- und Bewegungsarbeit wie Stöcke, Keulen und Gymnastikbälle um ein Klavier gruppiert. Hier lässt sich der Ursprung einer Bewegungslehre erahnen, die aus der kulturrevolutionären Jugendbewegung nach dem ersten Weltkrieg hervorging.

Dore Jacobs hatte das zweistöckige Gebäude mit Unterstützung des „Bund, Gemeinschaft für sozialistisches Leben“ auf einem waldigen Hügel bauen lassen. Heute steht es zwischen Ein- und Zweifamilienhäusern eingekeilt, inmitten des bürgerlichen Ortsteils Essen-Stadtwald. Das alte Blockhaus dient heute vornehmlich der Verwaltung der Schule. Im Dritten Reich wurden Juden vor der Verfolgung durch die Gestapo versteckt.

Zusammen mit ihrem Mann, dem reformpädagogischen Gymnasiallehrer und Kantforscher Arthur Jacobs, gründete die 1894 geborene Dore Debohra Marcus im Jahre 1924 den aus der Essener Volkhochschulbewegung entstandenen Bund. Anders als die linken Parteien der Weimarer Republik strebte die bis zu 200 Mitglieder zählende Vereinigung aus Arbeitern, Ärzten und Intellektuellen eine Lebensform an, die den Menschen nicht nur wirtschaftlich befreien sollte: Bundmitglieder lebten in kommuneartigen Häusern und Frauen emanzipierten sich von ihren Männern.

Dore Jacobs hatte durch ihren Kontakt mit Arbeitern des Ruhrgebiets die Erfahrung gemacht, dass die Industriegesellschaft den Kreislauf zwischen Körper, Geist und Seele zerstöre. Ihn wiederzugewinnen, ist die Aufgabe ihrer Bewegungsarbeit, die sie auf der Grundlage der Methode des renommierten Schweizer Rhythmik-Professors Emile Jacques-Dalcroze entwickelte. Bei ihm hatte sie in Dresden, neben Mathematik und Physik, von 1912 an auch Rhythmik studiert. Jacobs war die Tochter eines jüdischen Amtsrichters und eine jugendbewegte Zionistin. Nach der Schließung der Schule durch die Nationalsozialisten im Jahr 1934 konnte sie nur noch in der Illegalität weiterarbeiten. Arthur Jacobs erkannte als intellektueller Kopf des Bundes schnell den Antisemitismus als Kern der nationalsozialistischen Ideologie. Sein politischer Leitspruch war: „Aus der Reserve treten und die Isolation der Juden durchbrechen.“ Nach der Machtergreifung musste er selbst für einige Monate untertauchen, weil ihm Kontakte zu Kommunisten vorgeworfen wurden. Als die spätere Leiterin Lisa Jacob 1942 auf einer Deportationsliste stand, tauchte sie in den Untergrund ab und wurde drei Jahre lang von Bundesgenossen in ganz Deutschland unterstützt. Insgesamt rettete der Bund deutschlandweit nachweislich mindestens acht Jüdinnen vor dem Zugriff der Nationalsozialisten.

Erst in den 80er Jahren wurde die ehemalige „Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung“ unter der Leitung von Karin Gerhard in Dore-Jacobs-Schule umbenannt. Seit zwei Jahren ist sie ein staatlich anerkanntes Berufskolleg, auf dem die mehrheitlich weiblichen Schüler den staatlich anerkannten Abschluss Gymnastiklehrer/Bewegungspädagogin machen können und nebenbei die Fachhochschulreife erhalten.

In der Zeche Helene summt ein leises „Ahhh“ durch den lichtdurchfluteten Gymnastikraum unter dem Dach des Kulturzentrums. Die 22 Frauen der Unterstufenklasse steigen nach etwa fünfminütigem Wippen von ihren Tennisbällen herunter. Sie gehen jetzt wie auf Federn über den beheizten Parkettboden und werden sich mit den Worten der Lehrerin im Schulfach „Körperbildung“ ihrer Füße, Beine, Becken und Schultern bewusst. „Es fließt von unten die Bewegung in die Arme hinein. Wie bei einem Baum fließt es immer von unten nach oben,“ begleitet Karin Gerhard mit einer tiefen, ruhigen Stimme die Bewegungen der Schülerinnen. Die graumelierte Nachfolgerin von Dore Jacobs hat die Schule über 30 Jahre lang geleitet. Jenseits aller Trendsportarten gebe es etwas, was im Jargon der Dore-Jacobs-Schule Innenbewegung genannt wird. Ein wenig wie beim fernöstlichen Tao gehe es um das Tun im Nicht-Tun, um das Lassen ohne zu Wollen und um den „Atem als der Brücke zwischen Seele und Körper“, betont Karin Gerhard. Nicht umsonst sei in den frühen Jahren das Yin- und Yang-Zeichen Symbol des sozialistischen Bundes gewesen.