: 100 Kleisterwerke (1): Wahlbild, unsigniert
Auch Politik lässt sich nur ästhetisch vermitteln. Deshalb deuten in unserer neuen Serie renommierte Bremer Kunsthistoriker Plakate und Flugblätter des Bürgerschafts-Wahlkampfes. Heute widmet sich der Direktor der Kunsthalle, Professor Wulf Herzogenrath, dem Zeitschriftendruck „Bremen wählt“
von Wulf Herzogenrath
Die Bildfläche wird bis an den Rand völlig monochrom mit einem kraftvollen Rot ausgefüllt, ja, es gibt keine Begrenzung. Wir könnten von einem wirklichen „All Over“ sprechen, das Rot dehnt sich über alle Bildgrenzen aus. Im Goldenen Schnitt des Höhenmaßes steht lapidar in Großbuchstaben: „BREMEN WÄHLT.“
Dies ist ein konzeptuelles Werk mit einer klaren, unverschlüsselten Feststellung. Allerdings hat der Künstler sich geweigert, es zu signieren. Das wiederum erinnert an die Bildwerke der mittleren 1960er Jahre, das heißt, der Concept Art, die mit minimalen Gestaltungsmitteln ein Höchstmaß an intellektueller Wirkung allein über die Kraft des Wortes im Bild und in der Vorstellung des Betrachters erreichen wollte.
Denn in der Concept Art trat der subjektive Autor hinter sein objektives Werk zurück. Künstler wie Joseph Kosuth oder Lawrence Weiner haben hier wichtige Vorreiter-Funktion gespielt, bevor dies dann Werbepäpste wie der Düsseldorfer – und spätere Bremer HfK-Professor– Michael Schirmer Ende der 70er-Jahre in die Werbe-Branche entführten und daraus zum Beispiel die „schreIBMaschine“ als schwarzes Wort auf weißem Feld machten.
In unserem Bild gibt die Farbe des Hintergrundes einen Hinweis auf die Deutung der Aussage. Denn die Farbe Rot interpretiert sich dem Farb-Bild-Bedeutungs-Kundigen sofort, oder es wird ihm nachgeholfen durch die Seite, die dieser voran geht: dort steht weiß auf schwarz „STELLT EUCH VOR, DIE GANZE REPUBLIK WÜRDE SCHWARZ.“ Nun hilft uns ein anderes Plakat, das allerdings von einem Autor namens FDP signiert wurde, die Irritation aufzuheben: „56 Jahre hat Bremen rot gesehen“ – und hier wird endlich der Schlüssel für die Auflösung gegeben, die der Künstler des oben genannten Werkes verweigert. Nicht einmal eine übliche Signatur mit seinen drei Initialen liefert er ab. (Als Kunsthistoriker frage ich mich, warum alle Plakatkünstler immer mit drei Initialen signieren – wir sind doch nicht in den USA, wo der „Middle Initial“ zum guten Ton gehört!)
Aber, wenn nun 56 Jahre Rot zu einer Landesregierungs-Partei gehört, dann hat dieses Rot eine andere Bedeutung als der Kunsthistoriker gern „Bremen“ in der Verbindung zur Farbe Rot unterstellen möchte: Rot ist in der Kunst die Farbe der Liebe, des Blutes, des Lebens, der Leidenschaft. Bei den Hopis steht Rot zusätzlich für die Himmelsrichtung Süden – wie auch in China, dort sogar noch für die Jahreszeit Sommer. Also würden wir sagen: Bremen wählt im Sommer den Süden mit Leidenschaft!
Doch es könnte sein, dass hier auch der kulturinteressierte Politikfreund alles vom Tisch der Kunst fegt und auf die christliche Ikonographie verweist: Rot steht für das Feuer, das Fegefeuer, die Scharfrichter, die Teufel – und da sind wir bereits im großen Problemfeld, denn für die Teufel haben sich unsere Vorväter zugleich auch für schwarz entschieden: Teufel sind sowohl rot wie schwarz. Ist dies eine uralte heilige Koalition?
Doch Ernst beiseite: das Rot der Fahnen der deutschen Arbeiterbewegung ist schon im 19. Jahrhundert da – vor den sowjetischen oder gar der wunderbaren Roten Begleiterin Agnieska in Kresniks aktueller „Vogeler“-Inszenierung! Im Russischen ist das Wort für „Rot“ synonym mit „schön“, die Ziegelmauern um den Kreml wurden schon Ende des 15. Jahrhunderts gebaut, und der Rote Platz hieß schon lange so. Weil sich die Kommunisten dieses Synonyms als Farb-Symbol versicherten, muss doch nicht eine Farbe kunsthistorisch verkehrt werden!
Doch wir sollten auch hier vorsichtig sein: denn Schwarz wählten die Anarchisten und die italienischen Faschisten - eine ebenso eigentümliche Polit-Farbenlehre. Es ist doch besser, wir bleiben bei der Farblehre für die Kunst: da bedeutet Rot eine sinnliche Leidenschaft. Deshalb verstehen wir die glutvolle lebensnahe Botschaft unseres Bildwerkes: „BREMEN WÄHLT“. Vielleicht entdecken wir ja doch noch einen Autor oder eine Autorin, der oder die Künstlerisches und Kultur, Regionales und Europäisch-Hauptstädtisches in seine beziehungsweise ihre Programmatik hineinschreibt! Sonst müssten wir die nächsten Jahre sehr dunkel erleben – und das tut keiner Farbe gut!