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Archiv-Artikel

Es war eine schwierige Zeit und man darf mit seinem Weg zufrieden sein

Kohls Buch – eine Verschränkung von Familien- und Zeitgeschichte – ist so originell wie sein Reden und Handeln als Kanzler. Zu wenige Szenen erklären seine eigentümlichen Erfolge

Die Erinnerungen lassen keinen Zweifel daran, wer bei der Union Chef im Ring war

Helmut Kohl hat in den 16 Jahren seiner Amtszeit als Bundeskanzler nie versucht, einen seiner Vorgänger zu imitieren. Als Memoirenschreiber hält er es genauso. Gewiss, niemand hat von ihm literarische Meisterschaft erwartet, wie Bismarck sie bewies. Dass die Trockenheit der Darlegungen, mit der Adenauer seine Leser plagt, Kohls Sache nicht sein würde, war desgleichen vorauszusehen. Andrerseits ist der promovierte Historiker Kohl stets ein eifriger Leser von Biografien gewesen. Auch davon merkt man bei der Lektüre seines Buches nichts. Es ist so originell wie sein Reden und Handeln als Kanzler – einschließlich der gelegentlichen Höhepunkte.

Eine unverächtliche Probe solcher Originalität soll gleich vorgestellt werden, weil sie zu den Stücken gehört, die zum Reiz dieses Buches beitragen, aber auch geeignet sind, den eigentümlichen Erfolg dieses Politikers zu erklären. Kohl berichtet, früh im Buch, wie es sich gehört, von der Geburt seines ersten Sohnes. Die Eltern beschließen, ihn Walter zu nennen. Walter hieß der Bruder Kohls, der im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Walter hatte auch der Bruder seiner Mutter geheißen, der im Ersten Weltkrieg sein Leben verlor. Kohls Mutter war darüber sehr „aufgewühlt“. Nach dem Besuch bei Hannelore Kohl auf der Entbindungsstation „packte sie mich am Jackett und hielt mich fest, kam ganz nah an mich heran und sagte: ‚Kann man das ein drittes Mal machen?‘“ An dieser Stelle erinnert sich Kohl daran, dass er sehr viel später bei einer Sitzung des Nato-Rats in Brüssel mit Überlegungen des amerikanischen Präsidenten George Bush konfrontiert wurde, neue Kurzstreckenraketen in Mitteleuropa aufzustellen. Margaret Thatcher war sehr dafür. Hier nun erzählte Kohl die Geschichte von dem Namen seines ersten Sohns und endete mit der Frage seiner Mutter: „Kann man das ein drittes Mal machen?“ – „Da war Totenstille. George Bush kam um den Tisch herum, gab mir die Hand und sagte: ‚Helmut, that was a fine speech.‘“ Das Gelingen der Wiedervereinigung Deutschlands versteht nicht, wer nicht zur Kenntnis nimmt, wie bedeutsam solche Szenen für das Vertrauen waren, das Kohl bei seinen Partnern genoss.

Allein allzu selten überlässt sich Kohl solchem Erzählen. Seine Prosa bietet weniger Geschichtsschreibung als kommentierte Archivarbeit. Zu den politischen Dingen liefern Redemanuskripte, Briefe, Protokolle und Protokollnotizen die Stoffmasse. Hier wird der Vorgang dann und wann unterbrochen durch Bemerkungen zur Gefühlslage des Erzählers und seiner Familie. Maßgeblich ist das Muster „Liebe Eltern, mir geht es gut, wie geht es Euch“.

Kohls Jugendgeschichte wird in Genrebildern vorgestellt, über die sich manches Anerkennende sagen ließe. Das Wichtigste dabei dürfte aber sein, dass sie ihm wichtig sind. Sie vermitteln ein Bekenntnis. Das muss nicht heißen, dass Kohls Karriere von diesem Bekenntnis her zu erklären wäre. Es will zunächst nur sagen, dass es Kohl gern sähe, es verhielte sich so. Die Verschränkung von Familien- und Zeitgeschichte präsentiert Kohl in der Weise, in der es gegenwärtig viele ältere Menschen tun, die für Kinder und Enkel die Zeit und das Erlebte aufschreiben, das sie geformt hat. Es war eine schwierige Zeit und man darf mit dem eigenen Weg zufrieden sein.

Die Weggefährten kommen auch vor. Hier liest sich vieles so, als bereite Kohl die nächste Sitzung vor von Gremien, in denen er sie wiedertrifft. Lob, wo Lob hingehört, am liebsten ganz allgemein die Lebensleistung des anderen betreffend. Aber dann doch ungeschminkt der erste, zweite, dritte Hinweis darauf, dass Kohl nichts vergessen hat von dem, was ihm am anderen missfiel.

Beispiel: F. J. Strauß. Kohls Erinnerungen lassen keinen Zweifel daran, wer bei der Union Chef im Ring war. Wie er den so genannten Kreuther Beschluss vom Tisch bekam, also das einst von Strauß aufgelegte Projekt, die CSU bundesweit auszudehnen, schildert er genauso nüchtern, wie man es bisher schon hatte rekonstruieren können. Mit einer unverändert aktuellen Information: Max Streibl, nach dem Tod von Strauß bayrischer Ministerpräsident, habe sich bei einem Treffen der Führungsspitzen der Schwesterparteien für sein verlässliches Schweigen bedankt: Kohl hatte nie verraten, dass Streibl ihm damals Unterstützung signalisiert hatte für den Fall, dass die CDU im Gegenzug in Bayern einrücke.

Unverändert aktuell auch Kohls Festhalten an Adenauers Maxime CDU/CSU plus FDP gleich Mehrheit. Schon vor der Bildung der großen Koalition 1966 habe er „erregt wie selten zuvor kritisiert“, dass man die FDP per Einführung des Mehrheitswahlrechts aus dem Bundestag katapultieren wollte. Das werde der CDU nicht gut bekommen. Auch ein Wort zur Posse um die Wahl des neuen Bundespräsidenten. JÜRGEN BUSCHE

Der Autor schrieb die politische Biografie: „Helmut Kohl. Anatomie eines Erfolges“. Berlin 1998