piwik no script img

Archiv-Artikel

Offener Brief an die SPD

betr.: Agenda 2010

Den Genossen ein letztes Wort. Ich habe als junger Mensch Willy Brandt als Bundeskanzler erlebt – und ihn bewundert –, später den kühlen, rationalen und manchmal kaltschnäuzigen Bundeskanzler Helmut Schmidt, auch die tragischen Persönlichkeiten Engholm und Scharping habe ich als treuer SPD-Wähler ertragen, dazwischen Bernhard Vogel – lehrmeisterhaft, aber nicht unsympatisch – den charismatischen Draufgänger Lafontaine – das größte politische Hirn der SPD, aber leider unzuverlässig –, nun aber ist es zu viel, basta!

Während den deutschen Großkonzernen Milliardensummen aus regierungsamtlicher Dummheit zurückgezahlt werden müssen, die Selbstständigen, Beamten und Politiker sich kaum oder gar nicht an den Sozialkosten des Ostens (Rente, Arbeitslosenversicherung) beteiligen müssen oder dürfen, es mit der SPD unmöglich geworden ist, die 0,9 prozentige Vermögenssteuer der Superreichen wenigstens auf das Niveau der Amerikaner zu bringen, wird denen, die nichts haben, die mit dem absoluten Minimum auskommen müssen, nicht nur das Nötigste an Überlebensmitteln zusammengestrichen, sondern sie werden als Faulpelze, Arbeitsunwillige und als größtes Problem unserer Gesellschaft diffamiert.

Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken dürfen auch weiterhin ungehindert in die weit geöffneten Kassen unseres Gesundheitssystems greifen und müssen über ihre Abrechnungsgewohnheiten keinerlei Rechenschaft ablegen – wir sind ja so reich, dass wir die Arzneimittelforschung Europas bezahlen –, dafür dürfen wir nun auf Krankengeld verzichten, selbst wenn wir unsere Krankheit unserer Arbeit zu verdanken haben.

Aktiengewinne, Mieteinkünfte, Kapitalerträge bleiben ganz oder fast steuerfrei. Manch Wohnungsvermieter erzielt mit seinem immobilen Vermögen heute deutlich größere Einkünfte (steuerfrei) als viele Familien mit ihrer täglichen Arbeit (versteuert). Den Großkonzernen werden viele Milliarden Subventionen nachgetragen und kein Hundt ist sich zu fein, die Taschen dafür weit aufzumachen. Und statt sie an ihre gesellschaftliche Verantwortung zu erinnern, statt ihnen zu sagen, dass neben unserem Fleiß gerade unsere Konsens- und Solidargemeinschaft, unser 50-jähriger sozialer Friede diesen Reichtum nach einem verherenden Krieg uns Deutschen ermöglicht hat und der nun so ungerecht verteilt ist und wird, werden die, die diese Leistung erbracht haben, ehrabschneidend an den Pranger für Diebe und Faulpelze gestellt.

Als 49-Jähriger habe ich 30 Jahre lang SPD gewählt. Im letzten Jahr habe ich die Koalition mit meiner Stimme für die Grünen gestärkt – die grünen Partner, wo sind die denn. Leben die noch? Man hört so gar nichts mehr von ihnen. Das war meine letzte Stimme, die, direkt oder indirekt, die SPD stärken sollte. Dieser Zigarre rauchende Emporkömmling, der es der Solidargesellschaft zu verdanken hat, dass er über den zweiten Bildungsweg sein Jurastudium bezahlt bekommen hat und so zum Bundeskanzler werden konnte, und die er nun so dank- und gedankenlos den Großkonzernen opfern will, ist – und das wird die spätere SPD-Geschichte zeigen – die wohl größte Katastrophe, die dieser Partei geschehen konnte.

Sie werden die nächsten Wahlen verlieren. Niedersachsen und Hessen werden keine Ausnahme gewesen sein. Und Sie werden lange, sehr lange daran arbeiten müssen, diese Zeit vergessen zu machen. Noch nie hat eine Partei so grenzenlos das in sie gesetzte Vertrauen zerstört. […]

Sie haben vor Ihren ersten Wahlen Rentenkürzungen zurückgenommen, haben die von der Kohl-Regierung eingeführten Karenztage im Krankheitsfall zurückgenommen, um uns fünf Jahre später mehr zu streichen als Helmut Kohl jemals getan oder gewagt hätte. Nie wurden wir Wähler so belogen und getäuscht.

Ich bin Informatiker und in einer gut dotierten Anstellung. Neben der Erhöhung der Bemessungsgrenzen für Krankengeld und Rentenversicherung wären meine Frau und ich auch bereit gewesen, mehr Lasten zu tragen, wenn sie nach oben gerecht verteilt worden wären.

Sie als Sozialdemokraten hatten eine wunderbare Chance. Schade! MICHAEL JÜRGENSEN, München

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzungen von LeserInnenbriefen vor.Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.