: Visionen für drei Monate
Auch bisher wurde bei den sozial Schwachen gekürzt, und die Linken schwiegen. Die Schieflage wurde geschickter kaschiert. Jetzt ist Schröder ehrlich – daher der Widerstand
Es ist noch nicht lange her, da gab es einen rot-grünen Koalitionsvertrag. Wochenlang wurde hart gerungen, jeden Tag drangen angeblich geheime Details nach draußen, und am Ende war der Text so wichtig, dass ein besonders bedeutsamer Ort gefunden werden musste, um ihn zu unterzeichnen. Es war die Neue Nationalgalerie in Berlin, die für klassische Moderne steht. Für lichte Visionen. Der Vertrag sollte die Politik bis 2006 steuern, heute ist er vergessen. Das lässt sich nachvollziehen. Denn der Koalitionsvertrag war nur ein Beitrag zur Haushaltsdebatte für das Jahr 2003. Man einigte sich darauf, wie 11,6 Milliarden Euro zusammenzukratzen seien. Rot-Grün schuf einen neuen Begriff von Vision: rein fiskalisch, fiktiver Anspruch vier Jahre, reale Perspektive drei Monate.
Jetzt scheint sich dies noch pompöser zu wiederholen. Der Titel „Reformagenda 2010“ verdoppelt den Anspruch. Nicht mehr eine, gleich zwei Legislaturen will Rot-Grün nun gestalten. So weit zur Fiktion. Real müsste die „Agenda 2010“ eigentlich „Erstes Notprogramm 2003“ heißen. Denn die geplanten Kürzungen in den Sozialkassen werden nicht lange tragen, weil schon neue Defizite drohen. Am Dienstag ergab die Rentenschätzung, dass die Beiträge zum Jahresende voraussichtlich von 19,5 auf 19,8 Prozent steigen. Die Krankenkassen rechnen mit einer Erhöhung von 14,3 auf 15 Prozent, und die Bundesanstalt für Arbeit wird einen Zuschuss von mindestens fünf Milliarden Euro benötigen. Außerdem brechen die Steuereinnahmen weg.
Bei diesen Aussichten auf neue Kürzungsrunden erscheint der politische Trubel um die „Agenda 2010“ so absurd wie ihr Titel. Kanzler Schröder bindet sein Schicksal an ein Reformprogramm, das spätestens im Herbst überholt ist. Und die SPD-Linken samt Gewerkschaften mobilisieren plötzlich gegen Einschnitte, die sie ähnlich gerade erst hingenommen haben und demnächst wieder hinnehmen dürften. So häufig, wie gestrichen wird, kann man gar nicht auf der Straße protestieren. Es ist schon fast vergessen: Zum 1. Januar wurde bei der Arbeitslosenhilfe schon einmal um knapp drei Milliarden gekürzt – aber vor vier Monaten blieben die Gewerkschaften und Parteilinken ruhig.
Warum also dieser Trubel, ausgerechnet jetzt? Was ist an den jetzigen Kürzungen dramatischer als an anderen? Ihre Beschreibung. Das Stichwort lautet, viel zitiert, „soziale Ausgewogenheit“. Was darunter zu verstehen ist, das hat sich bei der SPD-Spitze in den letzten Monaten sehr verändert.
Der Koalitionsvertrag und die anschließende Haushaltsdebatte sahen noch vor, die angepeilte Kürzungssumme etwa zur Häfte bei den Arbeitslosen und zur anderen Hälfte bei den Besserverdienenden einzutreiben. Bei den Arbeitslosen fanden die Kürzungen auch tatsächlich statt. Bei der Arbeitslosenhilfe wurde die Anrechnung des Partnereinkommens und des Vermögens verschärft; außerdem sparte die Bundesanstalt für Arbeit, zum Beispiel an der Weiterbildung. Doch der geplante Ausgleich bei den Besserverdienenden fiel weitgehend aus. Ob Eigenheimzulage oder Dienstwagenbesteuerung – diesen Subventionsabbau hat die Union im Bundesrat gestoppt.
Daraus hat Schröder gelernt bei seiner „Agenda 2010“. Erneut werden die Arbeitslosen stark belastet. Die Senkung der Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe soll weitere drei Milliarden Euro bringen, die gekürzte Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld langfristig mindestens sechs Milliarden. Aber diesmal ist eine Gegenleistung der Bessergestellten gar nicht erst vorgesehen. Unübertroffen hat es kürzlich Grünen-Chef Reinhard Bütikofer zugespitzt: „Die ganze Diskussion um die Vermögensteuer können Sie vergessen, weil die Mehrheitsverhältnisse in dieser Frage zementiert sind.“
Eine bemerkenswerte Kausalität. Die Bundesregierung könnte die Vermögensteuer doch eigentlich trotzdem verabschieden und hinnehmen, im Bundesrat zu scheitern, um eine Position zu markieren und einen Unterschied zur Union zu verdeutlichen. Doch dann müsste man sich ja gegen die „Mehrheitsverhältnisse“ stellen. Rot-Grün will aber unbedingt zur Mehrheit gehören – gerade weil sie ihr nicht mehr gehört, sondern längst CDU und CSU. Die Genossen sind weder in der „neuen Mitte“ (Slogan 1998) noch in der „Mitte“ (Slogan 2002), sondern in der absoluten Defensive.
Alle Umfragen belegen, dass die Union bei Wahlen fast 50 Prozent der Stimmen erhalten würde und dass die allermeisten Bürger mit den Sozialkürzungen einverstanden sind. Deswegen also dieser Trubel. Mitten in der Fiktion „Agenda 2010“ hat Schröder die Machtverhältnisse anerkannt. Die Gewerkschaften vertreten eine Minderheit und die Mehrheit befindet sich längst jenseits der SPD. Insofern ist es fast egal, auf welche Konfrontationsstrategie sich die Gewerkschaften einigen – oder auch nicht. Sie bleiben Minderheit, auch wenn dies schmerzlich ist. Im Höchstfall können sie einen Kanzler entthronen, aber am Kurs der Gesellschaft wird sich vorerst nichts ändern.
Die Bürger wollen einen „Reformmotor“. Das ist das neue Modewort, das die „Mitte“ ablöst, um die sich noch vor kurzem alle Parteien balgten. Erfunden haben es die Grünen, doch CDU-Chefin Angela Merkel hatte es sehr eilig, die Union ebenfalls als „Reformmotor“ zu bezeichnen. Doch wohin soll dieses Reformauto fahren? Immer noch zur Vollbeschäftigung. Diese Fiktion begleitet uns nun seit 30 Jahren – eigentlich sollte man im Herbst Jubiläum feiern. 1973 tauchten die ersten Arbeitslosen auf, die nicht mehr aus der Statistik verschwanden. Seitdem wurden viele Rezepte ausprobiert, alle haben versagt. Die neueste Idee zum Thema lautet bekanntlich, dass ein Niedriglohnsektor ganz viele Jobs schaffen würde. Auch diesmal wird die Realität schlicht ausgeblendet.
Und diese Realität heißt etwa Metro. Vor zehn Tagen, Rheinberg am Niederrhein, Geburtsort von Claudia Schiffer: Das Topmodel unterbrach den Erziehungsurlaub kurz, um einen „Supermarkt der Zukunft“ zu eröffnen. Es ist ein Supermarkt ohne Kassiererinnen. Nun verdienen Kassiererinnen schon jetzt sehr wenig; es geschieht also das angeblich Undenkbare: Rationalisierung im Niedriglohnsektor. Der Mensch hat keine Chance gegen die Maschine.
McKinsey hat einmal geschätzt, dass wir 12 Millionen Arbeitslose hätten, wenn alle Produktivitätsreserven genutzt würden. Und auch das konservative Roman-Herzog-Institut – ja, das gibt es neuerdings – rechnet weiterhin damit, dass Jobs Mangelware bleiben.
Irgendwann wird es geschehen, dass die Vollbeschäftigung auch als Fiktion nicht mehr zu halten ist. Was wohl passiert, wenn dieser Realitätssschub die Wähler erreicht? Das wird noch spannend. Vielleicht kommt dann die Zeit für echte Visionen. Nur: Solange es in der Politik noch nicht einmal möglich ist, das Problem korrekt zu beschreiben, so lange kann es gar keine Lösung geben. ULRIKE HERRMANN