IN VENEZUELA GEHT DIE BOURGEOISIE AUF DIE BARRIKADEN : Trügerische Bilder
Es mag verblüffen – aber Hugo Chávez ist kein zum Diktator gewandelter Armenpriester wie Jean-Bertrand Aristide in Haiti, sondern gewählter Präsident Venezuelas. Deshalb tut er sich so schwer damit, wenn sein Rücktritt gefordert wird. Vor allem dann, wenn seine Gegner kaum schwer wiegende Gründe für einen solchen Schritt liefern können.
Die Bilder aus Venezuela trügen. Es ist keine breite Volksbewegung angetreten, um einen Berserker zu stürzen. Vielmehr geht die Bourgeoisie auf die Barrikaden. Chávez ist für sie ein ungehobelter Emporkömmling, der den Präsidenten gibt. Dabei haben sie ihn erst dazu gemacht. Denn die kleine, reiche Machtelite des Landes hat die arme Bevölkerungsmehrheit lange schlicht ignoriert. In einem Land, das der fünftgrößte Erdölexporteur der Welt ist, leben 70 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Staatliche Schulen sind oftmals Gebäude mit einem Dach. Chávez setzt auf ein breites Alphabetisierungsprogramm und versucht, die Gesundheitsversorgung in den Armenvierteln zu verbessern. In den Hauptstadtquartieren Altamira und Chacao, heute Zentren des Widerstands, kennt man solche Sorgen nicht. Dort leben die Manager der Erdölfirmen. Ärzte werden dort privat bezahlt, Kinder gehen auf private Schulen, studiert wird in den USA.
Die Gegner von Chávez fürchten sich weniger davor, was dieser bislang getan hat. Sie schreckt, was er noch aushecken könnte. Denn Chávez hat nach wie vor eine starke Basis: die Armen des Landes, deren Sprache er spricht und die zum ersten Mal in Venezuela einen politischen Repräsentanten im Präsidentenpalast haben. Dem ist durchaus abzunehmen, dass er die Lebensbedingungen der Unterschicht verbessern will.
Aber Chávez ist immer noch der Oberst der Fallschirmspringer, der er einmal war – kein Politiker. Für ihn ist Politik ein Schlachtfeld. Er kennt nur Sieg oder Niederlage. Er kann keine gesellschaftliche Hegemonie konstruieren, wie sein Amtskollege Néstor Kirchner in Argentinien. Chávez kann nur polarisieren. Und droht damit zum stärksten Feind von Chávez zu werden. INGO MALCHER