: Nichtwissen erleben
Kleine Soziologie der Erziehung (4): Die Pädagogik musste reichhaltige Erfahrungen damit machen, dass die Erziehung zur Motivation auf die Medien der Macht und der Liebe ausweicht. Gut ist das nicht
VON DIRK BAECKER
Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, dass Kommunikationsmedien ihre Funktion der Motivation von Kommunikation nur erfüllen können, wenn sie Zurechnungskonstellationen definieren, in denen sich die Kommunikationspartner zurechtfinden können und die ein Medium trennscharf von anderen Kommunikationsmedien unterscheiden. Für das Medium „Kind“ hatte er vorgeschlagen, eine Zurechnungskonstellation anzunehmen, die das Erleben des Kindes mit dem Handeln des Lehrers kombiniert.
Der Lehrer handelt als Wissender, damit das Kind sich als Nichtwissendes erlebt, ohne deswegen auf die Idee kommen zu dürfen, auch als Nichtwissendes handeln zu dürfen. Im Gegenteil, vor jedem Handeln soll es sich das dazu passende Wissen aneignen dürfen. Die Bereitschaft der Erwachsenen, nichtwissendes Handeln zu akzeptieren, nimmt mit der Anzahl der Wiederholungen dieses Handelns und mit dem Älterwerden des Kindes rapide ab.
Für das Medium „Intelligenz“ gilt dies auch: Im Medium der Intelligenz kommuniziert man immer dann, wenn der eine etwas ausprobiert, was sich der andere erst einmal anschaut, ohne daraus Konsequenzen für eigenes Handeln zu ziehen. Das gilt auch für den Autodidakten, der etwas ausprobiert und sich dabei selber zuschaut, um Lerneffekte zu identifizieren. Interessanterweise bedeutet dies, dass es für die Zwecke der Erziehung nicht ausreicht, Wissenschaft, wie anspruchsvoll oder anspruchslos auch immer, zu treiben. Denn Wissenschaft setzt ein Kommunikationsmedium voraus, in dem beide Beteiligten erleben und keiner handelt. Denn Wahrheit darf nicht als hergestellte Wahrheit durchschaut werden dürfen, sie muss von allen Beteiligten als nur hinzunehmende erfahren werden.
Erziehung jedoch fordert, dass der eine etwas vorführt, mit allen Konnotationen der Absicht, der Handlung und der Herstellung, damit der andere (der man selber sein kann) etwas lernen kann.
Sobald die Erziehung diese Zurechnungskonstellation verlässt, verliert sie an motivationaler Kraft. Das gilt auch und gerade dann, wenn die Erziehung sich gleichsam selber nichts zutraut und deswegen auf die Medien der Macht oder der Liebe ausweicht. Hiermit durfte die Pädagogik reichhaltige Erfahrungen sammeln. Macht bedeutet, dass Kommunikationsangebote so zugespitzt werden, dass das Handeln des einen das Handeln des anderen bindet. Man unterwirft unter die Zwänge der Prüfung und paukt für die Zwecke der Prüfung. Das muss nicht ausschließen, dass gleichzeitig und nebenher erzogen wird (nicht zuletzt: zur Fähigkeit, das auszuhalten), aber die Motivation zur Kommunikation läuft über Macht.
Liebe hingegen würde bedeuten, dass der eine alle seine Handlungen unter dem Gesichtspunkt auswählt, den anderen dadurch erleben zu lassen, dass er geliebt wird. Das ist dieselbe Zurechnungskonstellation wie die des Kommunikationsmediums der Erziehung und schon deswegen eine laufende Gefahr für die Erziehung – allerdings auch für die Liebe, die in Versuchung gerät, sich den anderen zu dem zu erziehen, den man so lieben kann, wie man lieben möchte. Die Erziehung muss es schaffen, sich von der Liebe zu unterscheiden, und das schafft sie nur, indem sie sich ständig auf den binären Code beruft und darauf beharrt, es mit Fragen des Wissens und des Nichtwissens zu tun zu haben und nicht mit Fragen der Intimitätsanbahnung. Man müsste sich unter diesem Gesichtspunkt noch einmal die Erfahrungen anschauen, die in den Akademien der klassischen griechischen Philosophie im Zusammenhang der Knabenliebe gesammelt worden sind. Nicht zuletzt wegen dieses Unterscheidungsbedarfs gegenüber der Liebe entwickelt die Erziehung ein ganz natürliches Interesse an der Wissenschaft, das es ihr erlaubt, klarzustellen, dass es um das Erleben von Wissen und Nichtwissen geht und nicht um das Erleben von Liebesbeweisen.
Entscheidend ist jedoch, dass die binäre Codierung des Mediums der Intelligenz mithilfe der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen trennscharf zu bezeichnen erlaubt, worum es in der Erziehung geht und worum nicht, solange der Gedanke mitläuft, dass es nicht um Wissen oder Nichtwissen schlechthin geht, sondern um ihre Unterscheidung im Hinblick auf einen Menschen, der eine Person werden will oder soll. Nichtwissen wird für Lehrer wie für Schüler zum Anlass von Erziehung, die allerdings nicht beim Wissen endet, sondern erst bei der Fähigkeit, das erworbene Wissen wiederum im Hinblick auf das darin enthaltene Nichtwissen zu beobachten und die Frage zu stellen, ob und wo weitere Erziehungsangebote Sinn machen.
Mithilfe der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen kann die gesamte Gesellschaft von Lehrern und Schülern gemeinsam oder getrennt voneinander daraufhin abgesucht werden, worin Erziehungsanlässe bestehen und woraufhin erzogen werden soll, solange deutlich ist, dass der Erziehungserfolg darin besteht, mit entsprechenden Konstellationen von Wissen und Nichtwissen anschließend umgehen zu können.
Es kommt dieser Beschreibung entgegen, dass die Soziologie einen allgemeinen Kommunikationsbegriff erarbeitet hat, der seinerseits auf die Kommunikation von Wissen aus Anlass von Nichtwissen abstellt, in der Politik wie in der Wirtschaft, in der Familie wie in der Kunst. Erziehung unterscheidet sich von anderer gesellschaftlicher Kommunikation darin, dass sie sich auf die Kommunikation dieser Unterscheidung selber kapriziert. Schon deswegen muss sie dazu neigen, sich selber zu überschätzen und „oberlehrermäßig“ jeden Sachverhalt nicht nur für pädagogisch zugänglich, sondern auch für belehrbar – nämlich auf das in ihm enthaltene Nichtwissen und auf Möglichkeiten des Besserwissens hin belehrbar – zu halten. Auch die so genannten Intellektuellen neigen dazu, ihre Erfahrungen im Erziehungssystem unzulässig zu verallgemeinern und die Gesellschaft insgesamt für „aufklärbar“ zu halten.
Das sind Missverständnisse, die jedoch in dem Moment, in dem die Erziehung von der Soziologie nicht nur punktuell, sondern mithilfe einer entfalteten Begrifflichkeit beschrieben wird, ausgeräumt werden können. Schon Luhmann hat hinreichend deutlich gemacht, dass auch dies noch Aufklärung ist, allerdings im Hinblick auf die dem intellektuellen Blick entzogene Eigenkomplexität des Gegenstandes spezifizierte „soziologische Aufklärung“.
Der fünfte Teil dieser Serie erscheint am kommenden Dienstag. Darin beschäftigt sich der Autor mit der Scheu der Erziehung vor dem Nichtwissen