: Eine Übergangsverfassung für den Irak
Im vierten Anlauf unterzeichnen die Mitglieder des Regierungsrates in Bagdad das bis zuletzt umstrittene Dokument. Offen ist, welches Gremium das Land ab dem 1. Juli regieren soll. Das muss der Rat nun mit US-Verwalter Bremer aushandeln
VON KARIM EL-GAWHARY
Der irakische Regierungsrat hat sich nach langem Tauziehen gestern nach drei Anläufen doch noch auf eine Übergangsverfassung geeinigt. Diesmal wurde das Dokument sicherheitshalber bereits zuvor hinter den Kulissen unterschrieben, um ein weiteres Fiasko wie letzten Freitag zu verhindern, als fünf schiitische Mitglieder des 25-köpfigen Regierungsrates sich in allerletzter Minute geweigert hatten, das Werk zu unterzeichnen.
Diesmal lief alles glatt, der Chor mit Kindern aus den verschiedenen irakischen Gemeinschaften kam nicht zu einer weiteren ungeplanten Generalprobe zusammen, und die 25 ausgelegten Stifte auf dem antiken Schreibtisch, der einst im Besitz des irakischen Monarchen Faisal I. war, wurden diesmal tatsächlich benutzt. Alle Mitglieder unterschrieben nacheinander in einer Demonstration der Einigkeit noch einmal in aller Öffentlichkeit die neue Verfassung.
Als ein „historisches Dokument“ lobte der derzeitige Präsident des Regierungsrates, der Schiit Mohammed Bahr al-Ulloum, anschließend das Werk. Der Wille des Volkes sei stärker als die Pläne jener, die beispielsweise letzte Woche die Anschläge in Kerbela und Bagdad ausführten, fügte er hinzu. Das neue Dokument unterstreiche die Einheit des Landes und dessen islamische Identität und es akzeptiere Föderalismus, fasste er die Grundzüge der Verfassung zusammen. Kurdenführer Maud Barzani, nächster Anwärter in der rotierenden Präsidentschaft des Regierungsrates, erklärte anschließend, dass in diesem Dokument erstmals die Kurden als gleichberechtigte Bürger festgeschrieben wurden.
Die Ausarbeitung der neuen provisorischen Verfassung war kein einfaches Unterfangen. Das ursprüngliche, von den Amerikanern festgelegte Ultimatum wurde um neun Tage überschritten. Als es schließlich vor einer Woche erstmals zu einer Einigung kam, wurde die Unterzeichnung nach den Anschlägen in Kerbela und Bagdad zunächst verschoben. Ein neuer Termin wurde letzten Freitag angesetzt, aber nur eine Stunde vor der Zeremonie weigerten sich die schiitischen Regierungsratsmitglieder überraschend, ihre Unterschrift unter das Papier zu setzen. Sie stießen sich an einem Passus, der der kurdischen Minderheit de facto das Recht gibt, gegen die später zu schreibende endgültige Verfassung ein Veto einzulegen, nachdem sie in einem Referendum von der mehrheitlich schiitischen Bevölkerung abgesegnet wurde.
Nach Verhandlungen am Wochenende, an denen auch indirekt Ajatollah Ali Sistani, der höchste schiitische Geistliche des Landes, beteiligt war, wurde die Verfassung nun doch unverändert unterzeichnet, angeblich nach einem lautstarken Streit zwischen den Regierungsratsmitgliedern. Vor allem die kurdischen Mitglieder waren über die schiitischen Einwände in letzter Minute ziemlich ungehalten. Einer der kurdischen Vertreter sprach gar von einer „Diktatur der Mehrheit“. Schon in den Wochen zuvor hatten sich die Themenkomplexe „Rolle der Religion“ und „Rolle der Kurden im zukünftigen Staat“ als schwierig erwiesen. In dem jetzt unterzeichneten Dokument sollen die Prinzipien des islamischen Rechts nicht, wie von den konservativen Islamisten gefordert, „die“ Quelle der Gesetzgebung darstellen, sondern nur noch „eine“ der Quellen. Die Klärung der Frage, welche Grenzen die kurdischen selbst verwalteten Gebiete im föderativen Irak einnehmen sollen, wurde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
US-Verwalter Paul Bremer wird nun die neue Übergangsverfassung in einem getrennten offiziellen Schreiben absegnen. Sie soll so lange gelten, bis laut Plan im nächsten Jahr eine durch freie Wahlen bestimmte irakische Regierung sich an die Erarbeitung einer endgültigen Verfassung macht, die dann in einem Referendum Ende 2005 abgesegnet werden soll.
Nicht geklärt ist bislang, welches Gremium den Irak ab dem 1. Juli regieren und welche Kompetenzen es haben soll. Dann nämlich planen die USA, dem Land offiziell seine Souveränität zurückzugeben. Diese Frage muss nun zwischen der US-Besatzungsverwaltung und dem jetzigen Regierungsrat ausgehandelt werden. Der nächste Streit ist damit vorgezeichnet.
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