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Archiv-Artikel

„Wir brauchen keine Niedrigsteuern wie in der Slowakei“, sagt Friedhelm Hengsbach

Die Union will Steuern senken und Arbeitnehmerrechte kappen. Mehr Jobs bringt das nicht – nur mehr Unsicherheit

taz: Herr Hengsbach, hat sich die Union von der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet?

Friedhelm Hengsbach: Sie hat zumindest einen Schritt in Richtung Wirtschaftsliberalismus gemacht. Die Union geht damit auch weiter als die Agenda 2010. Die betrifft Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose – die Ideen der Union zielen auf die Arbeitnehmer. Das Hauptmotiv scheint parteipolitisch zu sein: Die Union will sich gegen Rot-Grün profilieren.

Ist das gelungen?

Nach den Korrekturen durch den Arbeitnehmerflügel – eher nicht. Denn keine Partei kann ohne Widerspruch einfach die zweite Säule der sozialen Marktwirtschaft, den sozialen Ausgleich, anbohren. Schröder hat die sozialen Sicherungssysteme in Frage gestellt – daher die Krise der SPD. Die Union will nun Arbeitsschutz und Tarifautonomie angreifen. Auch das wird bei den Wählern nicht gut ankommen. Die Idee des Sozialstaats ist in Deutschland zu stark verankert, um sie auszuhebeln.

Ist dieser Kurs eine Wende in der Union?

Nein. Angela Merkel hat sich schon vor ein paar Jahren die Initiative „Neue soziale Marktwirtschaft“ unterstützt. Die war weder neu noch sozial.

Das Argument der Union lautet: ohne deregulierten Arbeitsmarkt, niedrige Steuern und weniger Arbeitnehmerrechte keine Arbeitsplätze. Ist da was dran?

Nein, das ist eine Legende. Lohnkosten, Lohnnebenkosten und Steuern werden einfach zur Schlüsselgröße erklärt, von der alles abhängt. Aber der Arbeitsmarkt ist ein abgeleiteter Markt. Dort tut sich etwas, wenn die Nachfrage nach Gütern steigt. Die Unternehmen haben momentan kein Kostenproblem, wie die Union meint, sondern ein Absatz und Finanzierungsproblem. An dieser Schraube müsste gedreht werden.

Also Staatsintervention – Keynesianismus?

Blair, Chirac und Schröder haben ja mal angedacht, ob es in der EU möglich ist, mit staatlichen Vorleistungen private Investitionen anzustoßen. Das ist eine richtige Idee für ein langfristiges, großflächiges Wachstum. Es wäre eine Antwort auf die Sparspirale. Was jetzt passiert, zerstört die Nachfrage. Die SPD kürzt bei Rentnern und Arbeitslosen, die Union kündigt Einschnitte bei Arbeitnehmern an, danach wird wohl der Mittelstand drankommen. Das schafft nur Unsicherheit, den Konsum kurbelt man so ganz gewiss nicht an.

Stoiber argumentiert, dass der deutsche Sozialstaat angesichts von EU-Erweiterung und globalisiertem Kapitalismus nicht zu halten ist. Hat er Recht?

Nein. Der Sozialstaat ist nicht nur ein Kostenfaktor. Er schafft Sicherheit und auch hohe Produktivität. Genauso kann man sagen: Lasst uns das Bildungs- und Gesundheitssystem abschaffen. Das kostet auch Geld. Aber ohne diese wäre die Wirtschaft gar nicht wettbewerbsfähig.

Aber die neuen Niedriglohnländer in der EU sind ein Fakt.

Ja, aber es kann nicht sein, dass der niedrige Steuersatz der Slowakei zum europäischen Leitbild wird. Ich glaube, wir hätten bei uns kein Problem gelöst, wenn deutsche Unternehmer nicht mehr in der Slowakei investieren würden. Die internationale Arbeitsteilung ist doch ein Wohlfahrtsgewinn für alle. Die Frage ist: Wie wird dieser Gewinn verteilt. Außerdem ist die EU-Erweiterung eine riesige Chance für uns. Nach 1945 haben die USA gesagt: Nur ein wirtschaftlich starkes Europa ist ein interessanter Handelspartner. So ähnlich sollten wir die EU-Osterweiterung sehen.

Alle Reformen zielen, bei Rot-Grün und der Union, auf weniger Sozialstaat, mehr Flexibilisierung …

Die Reformdebatten sind ein abgedichteter Diskurs der politischen und wissenschaftlichen Eliten. Diese Eliten sind mit den Auswirkungen von Sozialhilfekürzungen etc. nicht konfrontiert. Der Grundkonflikt läuft nicht zwischen den Parteien, sondern zwischen Elite und Betroffenen. Zwischen diesem Oben und Unten gibt es auch kein „Vermittlungsproblem“, wie es sich die Sozialdemokraten einreden. Die Leute in prekären Lebenslagen haben Erfahrungen – und diese Erfahrungen lassen sie sich vom Globalisierungsgerede oder dem Verweis auf den demografischen Wandel nicht wegdiskutieren.

Rot-Grün versucht ein paar zaghafte Kompensationen wie Erbschaftsteuer und Ausbildungsplatzabgabe …

Das ist alles defensiv.

Wo müsste denn eine andere Reformpolitik ansetzen?

Erstens: bei den so genannten postmateriellen Bedürfnissen der Leute – Gesundheit, Bildung, Kultur. Dafür braucht man einen aktionsfähigen Staat. Zweitens: bei der Pflege des Arbeitsvermögens. Das ist der kostbarste Schatz jeder Wirtschaft. Doch das Arbeitsvermögen wird in der Debatte dauernd abgewertet. Ingenieure sollen Taxi fahren, es geht nur um den Ab- statt den Aufbau von Qualifizierungen. Drittens: bei der Gleichstellung von Mann und Frau in Familie und Beruf. Und bei der ökologische Umsteuerung. Gerade das Verkehrssystem und die Landwirtschaft im Osten der EU wären lohnende Felder. Das sind im Groben die Aufgaben. Aber hierzulande reden alle über die Vereinfachung des Steuersystems – als wäre dies das Schlüsselproblem.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE