: Die Scheichs warten auf ihre Stunde
aus Nadschaf und Bagdad KARIM EL-GAWHARY
Als „eine Welt innerhalb einer Stadt“, wurde die Stadt Nadschaf, das frühere Machtzentrum des schiitischen Islam einst bezeichnet. Heute ist die südirakische Pilgerstadt eher eine Welt für sich. Selbst die Uhren ticken anders als im Rest des Landes. Wer morgens um neun Uhr von Bagdad kommend dort eintrifft, findet ein verschlafenes Zentrum vor. In der Hauptmoschee mit dem Schrein Alis, dem Neffen des Propheten Mohammed und dem Begründer des Schiitentums, herrscht frühmorgendliche Stille. Selbst die Bettler schlürfen noch den ersten Tee, bevor sie an den Eingängen zum Schrein ihrem täglichen Geschäft nachgehen. Die Sekretäre der Hausa al-Ilmija, einer Art schiitischen Seminars, des Rats der wichtigsten Scheichs des Landes, öffnen die Türen im Pyjama und verweisen höflich auf einen Termin zu etwas späterer Stunde.
Im Hotel al-Karrar, zu deutsch: „Jener, der kämpft und sich nie zurückzieht“, mit Blick auf Alis Grab, steht die Eingangshalle noch vom morgendlichen Schrubben unter Wasser. Hier residiert die Dawa-Partei, eine der großen schiitischen Parteien, die heute wieder offen im Land agieren kann (siehe Text unten). Scheich Hadi Khasarji, verantwortlich für Ideologie und Pressearbeit, muss sich erst seine Robe überwerfen und den Turban aufsetzen, bevor er die Gäste aufs Zimmer bittet und das Rätsel der Morgenruhe löst: Die Schiiten in Nadschaf weigern sich, die Bagdader Sommerzeit anzuerkennen. Hier ist es erst kurz nach acht . „Zeit ist relativ, und wir laufen ihr nicht hinterher“, erklärt der Scheich würdevoll.
Die schiitische Geistlichkeit scheint es tatsächlich nicht eilig zu haben. Abwarten, heißt es allgemein. Khasarji ist erst vor wenigen Wochen aus seinem zunächst iranischen und später syrischen Exil in seine heilige Geburtsstadt zurückgekehrt. Keine einzige politische Gruppe, ob religiös oder säkular, hätte das zuwege bringen können, was die Amerikaner geschafft haben – den Diktator loszuwerden, sagt er. Jetzt müsse man erst einmal sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Der 50-jährige Scheich denkt dabei in historischen Dimensionen: „Die Briten hatten im letzten Jahrhundert auch erklärt, sie kämen als Befreier und nicht als Kolonisatoren.“ Bisher hat sich die Dawa-Partei wie die meisten anderen schiitischen Gruppierungen aus den amerikanischen Versuchen, eine Übergangsregierung zu bilden, offiziell herausgehalten. Ob man sich an den ersten Wahlen in einem neuen Irak beteiligen will, ist noch nicht entschieden. Zweifellos, sagt Scheich Khasarji, müsse eine repräsentative Regierung vom Volk gewählt werden, aber man müsse aufpassen, dass unter den Bedingungen einer Militärbesatzung nicht eine Regierung dabei herauskommt, die nur den Interessen der Besatzer passt.
Ein paar Kilometer weiter in der Schakery-Moschee, dem örtlichen Hauptquartier des Sciri, des Obersten Rats der Islamischen Revolution im Irak, lungern auffällig viele Betende mit teuren Satellitenhandys herum. Man steht mit dem benachbarten Iran in Kontakt. Dieser hat in der Ära Saddam Husseins die Gruppierung beherbergt. Hier scheint Zeit ein kostbareres Gut. Scheich Muhammad Rida as-Sulami, für Informationen zuständig, schenkt den Journalisten nur ein Viertelstündchen auf den Teppichen der Moschee. Den Amerikanern gegenüber zeigt er sich allerdings geduldiger. Sicherlich, Ajatollah Chomeni habe von ihnen als „großer Satan“ gesprochen, aber im Irak müsse man erst einmal sehen, ob sich die Amerikaner auch als solcher verhalten. Es sei nicht im Interesse der Iraker und des Wiederaufbaus des Landes, die amerikanischen Besatzer jetzt zu bekämpfen. „Sie sagen, sie kommen im Namen der Befreiung und Demokratie und nicht, um den Islam zu bekämpfen. Das müssen wir jetzt testen“, fügt er hinzu.
Selbst Scheich Adnan al-Schahmani, Sprecher der radikalen Sadr-Bewegung in Nadschaf, zeigt sich gegenüber Washington pragmatisch konziliant. „Wir wollen, dass die Amerikaner erst einmal die staatlichen Dienstleistungen erneut zum Funktionieren bringen, und erst dann werden wir uns Gedanken machen, wie wir für unsere politischen Rechte kämpfen können“, führt er aus, warnt aber: „wenn wir sehen, dass die Besatzer den irakischen Reichtum stehlen, werden wir ganz schnell unsere Meinung ändern.“
Eine Drohung, der er einigen Nachdruck verleihen könnte. Seine Sadr-Bewegung hat vor allem die schiitischen Armenviertel in der zwei Autostunden entfernten Hauptstadt Bagdad wie das ehemalige Saddam City fest im Griff. Nicht zufällig wurde das Viertel, in dem ein gutes Drittel der Bevölkerung Bagdads unter ärmlichen Verhältnissen lebt, in Sadr City umbenannt. Der Name der Bewegung und des Viertels geht auf Imam Mohammed Sadiq Sadr zurück, eines der bedeutendsten religiösen schiitischen Oberhäupter; 1980 wurde er vom Saddam-Regime exekutiert.
Die Moscheen der Sadr-Bewegung sind seit den Kriegstagen für die öffentlichen Dienstleistungen in den Armenvierteln zuständig, die der Staat nicht zu leisten vermag. Die bewaffnete Miliz der Sadr-Bewegung patrouilliert in den Straßen. Selbst eine internationale Organisation wie die deutsche Hilfsorganisation „Architekten für Menschen in Not“ arbeitet in dem schiitischen Armenviertel Hay Tarek im Norden Bagdads mit den Sadristen zusammen, um ihre dortige Mahdi-Klinik, benannt nach dem 12. schiitischen entrückten Imam (siehe Hintergrund zum Iran auf Seite 5), weiterbetreiben zu können. Am Eingang wacht im orangefarbenen Overall einer ehemals staatlichen Firma für Elektrogeräte ein Sadr-Milizionär mit einer Kalaschnikow, und über der Tür prangt ein Porträt Imam Sadrs. „Ohne die Scheichs geht hier gar nichts“, erklärt der Münchner Gründer der Organisation, Alexander Christof. Das müsse er akzeptieren, wenn er in den Armenvierteln konkrete Hilfe leisten wolle.
In Nadschaf erläutert Scheich al-Schahmani, die Sadr-Bewegung sei nur von selbstlosen Motiven bewegt. „Wenn die Amerikaner die Dienstleistungen zur Verfügung gestellt hätten, hätten wir uns nicht eingemischt, aber sollen wir unsere eigenen Leute im Stich lassen?“, argumentiert er. Zumindest in Nadschaf selbst scheinen die Amerikaner das verstanden zu haben. Nicht weit vom Schrein Alis entfernt haben sie in einer Art Gegen-Scheich-Putsch einen Bürgermeister für die Stadt installiert. Adel Monem Amer al-Eidani residiert in einem Gebäude der Universität. Der ehemalige Militäroffizier stahlt allerdings nicht gerade Vertrauenswürdigkeit aus. Obwohl jeder in der Stadt weiß, dass er von den amerikanischen Truppen mitgebracht wurde, verbreitet er die Mär eines von ihm angeführten antibaathistischen Aufstands, als die Amerikaner vor den Toren der Stadt standen. Man habe Nadschaf „gesichert“, erklärt er in neuem US-Militärjargon. Er sei dann in einer Art „Volkswahl“ von etwa hundert ehrenwerten Bürgern der Stadt in sein neues Amt gehoben worden. Während er das erzählt, klopft der amerikanische Verbindungsoffizier ungeduldig an des Bürgermeisters Amtsstube, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
Die Amerikaner sind auch für die Bewachung ihres Bürgermeisters zuständig. Eine Gruppe GIs ist in einem nahe gelegenen Gebäude der Universität einquartiert. Offenbar ist Waschtag. Ihre Uniformen hängen zum Trocknen im Raum. Die Männer liegen in Unterwäsche herum, blättern gelangweilt in Pornomagazinen und sind von dem journalistischen Überraschungsangriff sichtlich überrumpelt. Erstens gebe man keine Interviews und zweitens müsse der Raum sofort aufgrund des „sensiblen geheimen Kartenmaterials“ verlassen werden, heißt es abweisend.
Die Scheichs nehmen das Schauspiel des selbst ernannten amerikanischen Gemeindevorstehers gelassen. Jeder wisse, dass Eidani eine Marionette der Amerikaner sei, aber solange er es schafft, Infrastruktur, Krankenhäuser und Schulen wieder in Gang zu bringen, lasse man ihn ruhig gewähren. Ihn anschließend loszuwerden dürfte sich als nicht allzu großes Problem erweisen, meinen alle übereinstimmend.
Viele tausend Kilometer entfernt, in Washington, erklärt unterdessen ein weniger pragmatischer Ideologe, Donald Rumsfeld, Iraks schiitische Scheichs zu einer „lautstarken Minderheit, die einen Irak nach dem Muster Irans schaffen wollen“. Dies werde Washington niemals erlauben. Offensichtlich war man in US-Regierungskreisen überrascht über die Effektivität, mit der die schiitschen Kleriker das irakische Machtvakuum vielerorts ausgefüllt haben. Vor allem im Pentagon war man wohl der irrigen Meinung, dass mit dem von ihm gesponserten irakischen Oppositionspolitiker Achmed Schalabi, der der schiitischen Glaubensrichtungen angehört, die schiitsche Beteiligung an der Macht im neuen Irak auch schon erledigt sein würde. „Die haben tatsächlich geglaubt, wir haben da einen Schiiten für die zukünftige Regierung und können die ganze Sache abhaken“, beschreibt ein US-Regierungsbeamter den naiven Ansatz.
Die schiitischen religiösen Gruppierungen gehen mit der US-Präsenz im Irak pragmatisch um. Sie sind empört, dass die Schiiten mit einem Bevölkerungsanteil von mindestes 60 Prozent von Washington nur als eine kleine Fraktion unter vielen behandelt werden. Das haben sie gemeinsam. Sonst nur wenig. Der schiitische Politikwissenschaftler der Schatt-al-Arab-Universität in Basra, Abed Ali, glaubt, dass sich viele der Schiiten nach einem ersten Neuerleben ihrer offen praktizierten Riten und Pilgerschaften und mit der Schaffung neuer staatlicher Institutionen bald wieder von ihren Scheichs als politische Führer abwenden und säkularen Parteien zuwenden werden. Und sollte den Scheichs tatsächlich eine politische Rolle zukommen, prophezeit er, würden die sich ohnehin niemals auf eine gemeinsame Linie einigen können.
Tatsächlich sind sie sich im Moment nur einig darüber, dass eine neue irakische Verfassung zwar nicht zum Islam im Widerspruch stehen darf, gegenwärtig eine Islamische Republik à la Iran nicht ansteht und es unvorteilhaft wäre, für Derartiges Druck zu machen. „Als islamische Partei bevorzugen wir natürlich einen islamischen Staat, aber wir werden uns nicht in den Weg stellen, wenn eine säkulare Regierung gewählt wird, sondern mit unserer Überzeugungsarbeit für einen solchen Staat fortfahren“, erklärt Scheich Khasarji von der Dawa-Partei diplomatisch. Auch Scheich as-Sulami vom Sciri beschreibt einen islamischen Staat als langfristiges Ziel, das es durch demokratische Wahlen zu erreichen gilt.
Keine Klarheit herrscht darüber, wie ein solcher Staat genau auszusehen hätte. Alle sprechen von Ajatollah Chomeinis Staatskonzept des welayate faqih, der „Regierung des Rechtsgelehrten“. Aber, so Sadr-Sprecher al-Schahmani, auch dazu gebe es äußerst unterschiedliche Interpretationen, die die Macht des schiitischen Klerus breiter oder enger gestalten wollen. Einig sind sich die irakischen Scheichs wiederum darin, das iranische System nicht einfach blind kopieren zu wollen. Es gibt sogar die Hoffnung, dass sich mit dem Ende der Unterdrückung der irakischen Schia durch Saddam Hussein das Zentrum des Schiitentums weg vom Iran hin zu den heiligen irakischen Städten in Kerbela und Nadschaf und einem moderateren Islam wenden könnte.
In jedem Fall wissen die religiösen Scheichs der Schiiten sehr wohl, was sie im ethnisch und religiösen Mulitikultistaat Irak riskieren würden, wenn sie Kurden, Sunniten, Christen und den säkularen Schiiten einen schiitisch geprägten islamischen Staat gegen deren Willen aufzwingen würden. Nach acht Jahren Krieg mit dem Iran, zwei Kriegen mit den Amerikanern und zwölf Jahren UN-Sanktionen ist das Letzte, was die Iraker wünschen, ein Bürgerkrieg.
Scheich al-Schahmani hat dazu in seiner religiösen Sprache gleich das entsprechende Fatwa der Sadr-Bewegung parat: „Ihr sollt euch nicht gegenseitig abschlachten, und wer es dennoch tut, hat keine Entschuldigung und wird für ewig in der Hölle schmoren.“