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Archiv-Artikel

Die Machtfrage neu stellen

betr.: „Es geht um mehr als nur Kündigungsschutz“, Interview mit Klaus-Peter Müller, taz vom 8. 5. 03

Herr Müller antwortet auf Ihre Suggestivfrage, woher „der Hang zur Parole“ bei „Funktionären wie Sommer oder Bsirske“ komme, vielleicht läge das daran, dass beide in den 80er-Jahren „am linken Otto-Suhr-Institut“ studiert hätten. Dort hätten sie gelernt, „in Schwarzweißschablonen“ zu denken und „auf einfache Denkmuster, eine klar strukturierte Welt“ zurückzugreifen.

Als Professor am OSI, der schon in den 80er-Jahren über Arbeitsbeziehungen lehrte, als Leiter der OSI-Arbeitsstelle Nationale und Internationale Gewerkschaftspolitik und als derzeitiger Geschäftsführender Direktor des OSI bin ich entsetzt darüber, dass längst widerlegte Klischees über das „linke“ und „dogmatische“ OSI auch heute noch locker Verbreitung finden – ausgerechnet in der taz, bei der viele RedakteurInnen es besser wissen. […]

Das OSI war stets eine pluralistische Lehrstätte der Politikwissenschaft, wobei das Spektrum immer auch linke, gesellschaftskritische Positionen und Ansätze einschloss. Der von der Tradition des Marxismus inspirierten Minderheit der Professoren – etwa Johannes Agnoli, um den wir derzeit trauern, Elmar Altvater und Wolf-Dieter Narr – lag nichts ferner, als „einfache Denkmuster“ zu verkünden: Vielmehr ging es um Analyse und Entfaltung von Widersprüchen, um Kritik an Verhältnissen und Kritik an Theorien, auch und vor allem den eigenen.

Michael Sommer und Frank Bsirske haben am OSI nicht „Schwarzweißschablonen“ gelernt, sondern das kritische Infragestellen herrschender Ansichten und die solide Analyse politisch-ökonomischer Zusammenhänge. Sie sind damals ermutigt worden, auch dann für soziale Gerechtigkeit und gegen einen Mehrheitskonsens auf Kosten der Schwachen einzutreten, wenn das in den Medien gerade nicht populär ist. Das sind jedenfalls keine schlechten Voraussetzungen für den Beruf eines Gewerkschaftsführers.

Im Übrigen müsste seriös recherchierenden JournalistInnen bei auch nur knapper Durchsicht der jüngeren Äußerungen von Sommer und Bsirske sich die Einsicht erschließen, dass deren Stellungnahmen zum gegenwärtigen Streit um den Sozialstaat zugleich differenzierter und wertfundierter sind als die vieler anderer politischer Akteure einschließlich des Bundeskanzlers. Insofern fällt der Vorwurf an die Urheber zurück: Nicht das OSI und seine prominenten Absolventen, sondern die taz und ihr Interviewpartner Hans-Peter Müller pflegen und fördern einfache Denkmuster über das OSI, die Gewerkschaften, die Politik und die Gesellschaft. BODO ZEUNER,

Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin

betr.: „Richtungsstreit der Gewerkschaften“, Brennpunkt, taz vom 8. 5. 03

Die Gewerkschaften sind gesellschaftlich isoliert. Ihre Konzepte wirken „altbacken“. Als Organisation wird die Gewerkschaft als „Reformbremse“ wahrgenommen. Letztlich sind die Vorwürfe nicht unberechtigt. Die Gewerkschaften versuchen, sich an das zu klammern, was sie in den letzten Jahrzehnten errungen haben. Dabei wird verkannt, dass die gesellschaftliche Situation eine andere ist. Der zwischenzeitliche Sieg des kapitalistischen Gesellschaftsmodells über den „sozialistischen“ Block lässt den Kapitalismus alternativlos dastehen. Das führt dazu, dass dessen Kräfte, ungezügelt durch die Bedrohung einer Systemalternative, sich frei entfalten können und – daraus folgend – müssen.

[…] Solange die Gewerkschaften sich der Logik des Kapitalismus unterwerfen, indem sie ihn nicht in Frage stellen, werden sie aus der Defensive nicht herausfinden und in der Rolle des „Bremsers“ bleiben – und so in der gesellschaftlichen Isolation.

Der einzige Ausweg für die Gewerkschaften aus diesem Dilemma wäre, den Kapitalismus an sich zur Disposition zu stellen. Sich nicht nur als „Gegenmacht“ zum „bösen“ Kapital darzustellen oder als besserer Volkswirt, nicht nur die erkämpften Stellungen halten zu wollen, sondern die „Machtfrage“ neu zu stellen, tatsächlich nach der „Macht“ zu greifen. Dies wäre das einzige Gegenkonzept, das die Gewerkschaft aus der Defensive bringen könnte. Nachdem der „sozialistische“ Block als Faustpfand gegen das Kapital nicht mehr existiert, müssen die Gewerkschaften selbst die Alternative zum Kapitalismus aufzeigen, um das Kapital unter so starken Druck zu setzen, dass es zu Zugeständnissen bereit ist. ARNE OFFERMANNS, Hamburg

Im Zusammenhang mit der gerechtfertigten Kritik an dem geplanten Abbau der sozialen Absicherung weiter Teile der Bevölkerung Deutschlands wird den Gewerkschaften aus Reihen von Politik, Presse und Arbeitgeberverbänden immer wieder vorgeworfen, sie vertreten einen immer kleiner werdenden Teil der von der Politik Betroffenen. Dabei wird auf die rückläufige Mitgliederzahl gezielt, die bei ca. 7,7 Millionen liegt. Wenn jedoch tatsächlich die Mitgliederzahl die einzige Legitimation zur Stellung- und Einflussnahme ist, dann muss man den im Bundetag vertretenen Parteien sofort jegliche Aktivitäten im Namen Deutschlands verbieten; denn diese verfügen zusammen nur über ca. 1,6 Millionen Mitglieder. THOMAS IRMSCHER, Krefeld