: Dutzende Tote bei Anschlag in Tschetschenien
Fast 200 Personen verletzt. Zentrale des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in Snamenskoje komplett zerstört
BERLIN taz ■ Laut Angaben der Moskauer Regierung sollte dieser Frühsommer in Tschetschenien eine Zeit der Beruhigung werden. Von wegen: Bei einem Sprengstoffanschlag im nordtscheschenischen Dorf Snamenskoje wurden gestern mindestens 40 Menschen getötet und fast 200 verletzt. Das Gebäude, dem das Attentat galt, beherbergte außer Büros der von Moskau eingesetzten tschetschenischen Administration auch ein Polizeirevier. Vor allem aber befand sich dort der Sitz des russischen Inlandsgeheimdienstes, FSB, der die Militäroffensive in Tschetschenien koordiniert. Dessen Räume seien völlig zerstört, sagte der Leiter der Tschetschenienabteilung im russischen Ministerium für Katastrophen, Ruslan Atajew.
Die Detonation wurde in einem mit Sprengstoff beladenen Lastwagen ausgelöst, der um 10 Uhr vormittags in den Gebäudekomplex raste. Auch Nachbarhäuser wurden in Mitleidenschaft gezogen. In Snamenskoje sind die Stäbe mehrerer internationaler Hilfsorganisationen untergebracht. Die Region gilt als relativ ruhig innerhalb der separatistischen Bergrepublik, ein Großteil ihrer Bevölkerung tritt für einen Kompromiss mit der russischen Zentralregierung ein.
Der Zeitpunkt des Anschlags war offenbar von tschetschenischen Rebellen gezielt gewählt. Am ersten Arbeitstag nach einer Reihe von Feiertagen waren die Büros besonders gut besetzt. Die Tat ist Teil einer ganzen Anschlagsserie. Im vergangenen Dezember waren bei einem Kamikaze-Attentat auf den Sitz der moskautreuen Verwaltung in Grosny über 80 Menschen ums Leben gekommen.
Eine Befriedung der Situation in ganz Tschetschenien hatte Moskau großspurig vor und nach einem Referendum im März angekündigt, bei dem in der abtrünnigen Zwergrepublik eine große Mehrheit von Stimmen für deren Verbleib innerhalb der Russischen Föderation gezählt wurde. Die Volksabstimmung fand allerdings ohne Kontrolle westlicher Beobachter statt. Die tschetschenischen Separatisten werteten sie eher als Herausforderung.
Jeder Terrorakt, der bisher in Tschetschenien und in Russland selbst mit dem schon ein Jahrzehnt währenden Sezessionskampf in der Bergrepublik in Verbindung gebracht wurde, löste Spekulationen über die Urheber aus. Dem zweiten Tschetschenienkrieg gingen 1999 Bombenanschläge auf zwei Moskauer Hochhäuser voraus, bei denen über 300 Menschen starben. Bis heute ist der Verdacht nicht ganz ausgeräumt, dass dabei der Inlandsgeheimdienst FSB selbst die Hand im Spiel hatte. Zumindest bei dem gestrigen Anschlag scheidet er mit Sicherheit als Akteur aus.
BARBARA KERNECK