: Anarchisch seit dem ersten Spatenstich
Der Hamburger Journalist René Martens hat die turbulente Geschichte des St. Pauli-Stadions aufgeschrieben. Mit einem Reliquienschrein hat sein kenntnisreiches Buch „Niemand siegt am Millerntor“ erfreulich wenig zu tun
Frank fährt demnächst nach Dortmund: Ein paar Fans des BVB haben den Clubwirt des FC St. Pauli eingeladen, mit ihnen ein Spiel auf der berühmten Südtribüne mitzuerleben. Vor ein paar Wochen waren sie als Touristen in Hamburg unterwegs und flehten Frank am Pauli-Tresen an, das Heiligtum Millerntor für einen winzigen Blick zu öffnen. Das war beileibe kein Einzelfall – kaum ein anderer Fußballclub wird so stark mit seiner Spielstätte identifiziert wie der aus St. Pauli. Nirgendwo sonst ist die Beziehung der Fans zur Spielstätte so intensiv.
„Kommt etwa bei anderen Vereinen der Name des Stadions in Gesängen vor?“, fragt Autor René Martens zu Beginn seiner Geschichte des St. Pauli-Stadions, die den Titel des berühmtesten dieser Gesänge im Titel führt: „Niemand siegt am Millerntor“. Und wo sonst hat die Mitgliederversammlung schon mal präventiv beschlossen, den Stadionnamen nicht zu verhökern?
Zwar ersetzt der liebevoll gestaltete Band keinen Stadionbesuch – wer darin stöbert, stößt aber immer wieder auf den „Mythos St. Pauli“. Und entdeckt dabei so manches Detail, das ihm im Spielbetrieb bislang verborgen blieb. Vom Bauwerk ausgehend entfaltet Martens Geschichte und Geschichtchen, die aufzeigen, warum dieser Ort immer wieder zur Projektionsfläche von Heimatsuchenden und Sozialromantikern wird, warum aber auch der Widerspruch von vornherein in ihn eingeschrieben ist – und warum es niemals Ruhe geben wird am Millerntor.
Die Frühgeschichte – von der Gründung 1910 bis zum Zweiten Weltkrieg – zeigt einen Verein, der auf dem Heiligengeistfeld, wo sich fast zeitgleich mit mehreren Fußballclubs auch die Schausteller des Vergnügungsmarkts Dom niederlassen, von Platz zu Platz zieht. An diesem exponiertem Standort ist der FC St. Pauli von vornherein eng mit der Kultur- und Sozialgeschichte Hamburgs verwoben: „Jedenfalls kann man den FC St. Pauli durchaus mit jemandem vergleichen, der sein Leben in derselben kleinen Straße verbracht hat.“
Die Geschichten des ersten Stadions, das 1946 an der südöstlichen Ecke des Heiligengeistfeldes gebaut wurde, und der Verlegung zum heutigen Standort fünfzehn Jahre später enthalten jede Menge Deja Vus: Chaos und politische Querelen gehören zu jedem neuen Bauabschnitt. Vom unerlaubten Bau einer Tribüne aus Trümmerschutt 1946 bis zu Baggerparty und Littmann-Loch vor zwei Jahren. Den oft vollmundig angekündigten, nie realisierten Neubauten ist gleich ein eigenes Kapitel gewidmet.
Mit der kenntnisreichen Beschreibung baulicher Details und ihrer Geschichte ist die Bühne bereitet für die Auftritte glanzvoller Teams sowie legendärer Spieler, Fans und, unvermeidlich, Kiez-Originale. Die Leser erfahren, warum ausgerechnet beim Auftritt von Pelé mit dem FC Santos am Millerntor 1959 kein St. Pauli-Kicker dabei war und warum Verteidiger Heinz Deininger 1962 ein Karnickelbau zum Verhängnis wurde. Andere Kapitel wie „The incomplete Songbook“ und „Der Klub der flotten Dichter“ würdigen die kreative Fankultur.
Dabei entgeht der Autor trotz großer Sympathie für sein Sujet der Gefahr, das bildreiche Material als Reliquienschrein auszustellen. Auch die differenzierten Betrachtung der neuen Südtribüne und der weiteren Planungen zeigt, dass kritiklose Anbetung der St. Pauli-Kultur wesensfremd ist. Die entscheidende Frage ist demnach, ob das künftige Stadion weiter so individuell gestaltet wird „wie unsere Wohnzimmer“, heißt es bei Martens. Oder ob es zu einer jener modernen Arenen werde, die Stadionexperten als „Transitorte“ bezeichnen – wie Tankstellen und Flughäfen. RALF LORENZEN
René Martens, Niemand siegt am Millerntor. Die Geschichte des legendären St.-Pauli-Stadions. Verlag Die Werkstatt 2008, 160 S., 24,90 Euro