: Rhapsody in Zuversicht
Brian Wilson hat den Faden wiedergefunden: 1967 gingen die Aufnahmen für das sagenumwobene Beach-Boys-Album „Smile“ im Chaos unter. Es wurde nie veröffentlicht. Am Mittwoch führte Wilson die Musik nun in Frankfurt auf
VON HARALD FRICKE
Begeisterung muss man teilen. Deshalb haben sich alle vorbereitet, haben Eintrittskarten für die Arbeitskollegen besorgt und ihnen CDs mit alten Hits gebrannt, die in den letzten Tagen zu Hause rauf und runter liefen, als Einstimmung aufs Konzert. „Dance, Dance, Dance“ geht immer noch, und auch den Refrain von „California Girls“ hat vom Rentner bis zum technosozialisierten Nachwuchsfan niemand vergessen. In jeder Minute wird irgendwo auf der Welt ein Song der Beach Boys gespielt, in Frankfurt sind es gleich drei Dutzend hintereinander. Erst ein Set mit nostalgisch doowoppenden Herzschmerzhymnen, a cappella oder bloß mit Bongos und akustischer Gitarre begleitet; dann die komplizierten, barocken Songschnitzereien aus der „Pet Sounds“-Ära; und schließlich als deutsche Uraufführung: „Smile“, das 1967 von Brian Wilson komponierte, wegen seiner bis zur atonalen Spieldosenmuzak ausgereizten Komplexität nie veröffentlichte Gesamtkunstwerk.
Nur wann es heute Abend passiert, weiß keiner hier so genau. Ist es schon beim Intro, als Wilson umringt von seiner Musikerhorde „In my room“ singt, während ihm das Publikum in der ausverkauften Alten Oper tausendfach zujubelt? Oder doch eher beim Einsatz der auf Watte durch den Raum schwebenden Trompete zu „God Only Knows“, dem Liebeslied, für das Paul McCartney die Beach Boys damals geliebt hat? Wann platzt der Knoten? Wann wird aus dem Auftritt des mittlerweile 61-jährigen Wilson das Ereignis, das die Tür vollends zu dem Festsaal aufreißt, in dem die Sechzigerjahre wohnen? Alle wollen den Knall, mit dem diese eine Melodie plötzlich aus einer fernen Galaxie ins Hirn fährt, ihr Sound auf der Hautoberfläche kribbelt und dann warm die Venen hochsteigt wie Betäubungsmittel – high durch Harmonie.
Brian Wilson kennt die Sucht nach solchen Momenten ziemlich genau. Seine Songs, die er in knapp 45 Jahren geschrieben hat, sind eine unentwegte Abfolge von Glück, das sich im Sekundentakt aufschichtet, zu einem Wellenkamm formt und wieder zerfließt. Surfmusik von einem, der mehr Zeit an seinem Klavier als auf dem Meer verbracht hat und der Mitte der Sixties das Ohr war, durch das zumindest das weiße Nachkriegs-Amerika sich selber summen hörte: Look! Listen! Vibrate! Smile!
Dass er dabei trotzdem fast untergegangen wäre, macht inzwischen den größten Teil seiner Legende aus. 1967 wollte Wilson mit dem Album „Smile“ eine „teenage symphony to God“ schaffen. Doch zur Veröffentlichung ist es nie gekommen. Manche sagen, er sei bei den Aufnahmen an zu viel Drogen durchgedreht, für Wilson selbst waren höhere Wesen im Spiel – als es in der Nachbarschaft des Studios brannte, nachdem er die Suite „Mrs. O’Leary’s Fire“ mit dem O-Ton lodernder Feuergeräusche unterlegt hatte, zog er die fast fertigen Bänder aus Angst vor weiteren Katastrophen zurück. Vermutlich hat Wilsons frühere Plattenfirma Capitol Records eine eigene Version der Geschichte: Schon vor der endgültigen Abmischung galt „Smile“ kommerziell als Wackelkandidat. Ein Flop musste auf jeden Fall verhindert werden, auch um den guten Ruf der Beach Boys nicht zu beschädigen, die bis dahin innerhalb von dreieinhalb Jahren über 16 Millionen Singles verkauft und 12 Alben produziert hatten. Die heilige Kuh der amerikanischen Popmusik sollte nicht an Rinderwahnsinn eingehen.
Obwohl die vorab ausgekoppelte Single „Good Vibration“ trotz Startrek-artigem Elektronikgezirpe im Herbst 1966 von null auf eins der Billboardcharts schoss, änderte sie nichts an den Bedenken der Labelbosse. Denn für das Vierminutenstück hatte Wilson insgesamt 90 Stunden Material einspielen lassen – großes Streichorchester inklusive. Es war vor allem seine Unberechenbarkeit als Produzent, die sich nicht mehr zielgruppengerecht steuern ließ. Wer würde eine Platte kaufen, auf der Musiker zu „Vegetables“ rhythmisch Karotten kauen, während der Chor singt, dass es nun Zeit zum Zähneputzen ist? Noch hatte sich Psychedelia kaum über eine kleine Community in San Franciscos Haight Ashbury hinaus ausgebreitet, noch klangen die Beatles nach gefälligem Entertainment und nicht nach „Lucy in the Sky with Diamonds“.
Wilson dagegen erklärte in Interviews, dass er auf einem LSD-Trip die Erleuchtung gehabt hätte und „Smile“ für ihn so etwas wie „religiöse Musik“ markieren sollte, um die alten Beach-Boys-Hörer zu verunsichern. Waren die Beach Boys in ihren zuckerstangenfarbenen Hemden bislang mit quietschvergnügtem Singalong assoziiert worden, so stellte sich Wilson die Zukunft als Mischung aus Kantatenchören, Exotika und in Schleifen kreisenden Kirmesorgeln vor – rauschhaft und never ending. Sein Ziel war es, die Beatles in ihrer ständigen Neuerfindung des Pop zu überbieten. Schon im Jahr zuvor hatte er mit „Pet Sounds“ eine Antwort auf „Rubber Soul“ gesucht: wunderbare Gefühlsminiaturen, in hochglänzende Breitwandarrangements verpackt. Plötzlich war ein Song wie „Sloop John B.“ zwar immer noch ein radiotauglicher Ohrwurm, aber gleichzeitig doppeldeutig, vage und sloganhaft cool. „Pet Sounds“ war das bekiffte Kichern vor dem finalen „Smile“.
Tatsächlich meinte es Wilson ernst mit der Entfesselung aller ihm zur Verfügung stehenden magischen Kanäle: Damit die Atmosphäre bei den Aufnahmen stimmte, wurde zu den Sessions für 2.000 Dollar Haschisch eingekauft. Zu Hause ließ er sich zur Inspiration das Wohnzimmer mit Sand aufschütten, damit er vom Klavier aus den Strand sehen konnte. Bei den Proben zu der besagten „Mrs. O’Leary“-Suite mussten die Musiker sich rote Feuerwehrhelme aufsetzen, weil Wilson den dramatischen Effekt brauchte. Gleichwohl stritt er sich andauernd mit dem extra für „Smile“ angeheuerten Texter und Arrangeur Van Dyke Parks, er feuerte Tontechniker, deren Ehefrauen er für Hexen hielt, und er ließ an manchen Tagen die gesamte Mannschaft unverrichteter Dinge Feierabend machen, da das Studio seiner Meinung nach total verbotene, schlimmer noch bad vibrations aussendete.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Capitol Records bereits die ersten Newsletter an Plattenläden verschickt, um für das neue Werk der Beach Boys mit dem „happy album cover“ und dem zu erwartenden „happy sound“ zu werben, der millionenfach vermarktet werden sollte. Doch am ursprünglich geplanten Erscheinungstermin im Januar 1967 hatte Wilson die Stücke nicht einmal annähernd in eine Form gebracht: Der vermeintliche Opener „Heroes and Villains“ bestand aus unübersehbaren Fragmenten, die mit jedem neuen Tag im Studio nur noch weiter ausfransten. Hier eine Spur mit einsam schnarrendem Banjo, dort ein tief im Hallraum dröhnender Chor, der rätselhafte Zeilen sang wie „wa halla loo lay, wa halla loo lah / keeny wok a poo lah“. Nicht zufällig stammte das in den Songschnipseln als Text ständig wiederkehrende Mandala „Child is father of the man“ von dem Psychiater Karl Menninger, der sich in seinen Büchern mit dem Trieb zur Selbstzerstörung bei Künstlern beschäftigte. Keine Frage, Wilson hatte den Faden verloren.
Und er hat ihn offenbar wiedergefunden, 35 Jahre nach dem Crack-up. Auch wenn Wilson mit schlurfendem Ozzy-Osbourne-Schritt und seiner papierblassen Haut noch immer von Medikamenten gezeichnet ist, behält er auf der Bühne in jeder Minute den Überblick. Es ist schlichtweg unglaublich, mit welcher Präzision und Leidenschaft die Band in Frankfurt um ihn herum im Timing bleibt, egal wie irrwitzig das Tempo anzieht, Gitarrenriffs unvermittelt in Bläsersätze aufgelöst werden oder Walzer in einen Marsch einmünden. Nur die Die-Hard-Fans, die „Smile“ seit Jahren als Bootleg im Schrank stehen haben, sind etwas irritiert. Denn mit dem Konzert verliert ein Stück weit der Mythos seine Macht: Plötzlich wird zu Ende gebracht, was vorher in der Fantasie unendlich viele Variationen zuließ. Die letzte Leerstelle des Pop hat sich geschlossen.
Für Wilson dürfte der Verlust der alten Melancholie allerdings die Rettung gewesen sein. Freundlich gestikuliert er mit dem Händen, malt eine imaginäre Sonne in die Luft, rockt vom Klavierschemel aus mit und freut sich, wenn er von den Stockholm Strings & Horns durch zerbrechliche Elegien wie „Surf’s up“ getragen wird. Das war sein Ziel: „Smile“ ist eine Rhapsodie der Zuversicht, mit der in Frankfurt eine Epoche erneut zum Schillern kommt.
Wo er früher vom Willen zur Distinktion, von gutem Geschmack, Statusfragen und strategischen Finessen beinahe aufgerieben wurde, ist es heute der gemeinsame Nenner über die Generationen hinweg, der ihn aufbaut. Deshalb ist es völlig in Ordnung, wenn in dem Zweieinhalbstundenprogramm einige aktuelle Stücke schwer Richtung Stadionrock ausscheren – sie sind eben eine weitere Facette, die souverän ins Gesamtbild eingeflochten wird. So entpuppt sich Wilsons Verrücktheit am Ende als Normalität auf höchstem Niveau: Konzertante Konsensmusik, die das pensionierte Beamtenpaar ebenso leichthin erreicht wie den Nerd im Bundeswehrparka. Dass sie alle wegen „Smile“ da sind, ist kein Wunder, sondern ein Triumph für die Popkultur.
Selbst das Durcheinander in seinem Kopf hat sich enträtselt. Die Texte sind nicht mehr unverarbeitete Trip-Überbleibsel, sondern zarte surreale Poesie. Auch die ständige Wiederholung der Akkordfolgen ist keine Drogenhalluzination, eher schon eine Vorwegnahme von Loops und Samples. Vermutlich war Wilsons musikalische Vision einfach nur sehr modern, schließlich kannte er sich damals bereits mit Jazz aus. Von heute betrachtet hat das dichte Geflecht melodischer Schlaufen und abrupter Wechsel jedenfalls erstaunlich viel Ähnlichkeit mit Ornette Colemans „Harmolodic Theory“, nach der keine Grenzen mehr existieren sollten zwischen Rassen, Klassen oder Geschlechtern und erst recht nicht zwischen Tonarten: Alles ist modulierbar. Auf seine Weise hat sich Wilson dieser Vorstellung jetzt am meisten genähert, indem er ausgerechnet die einst als total esoterisch eingestufte Musik von „Smile“ für das größtmögliche Publikum zugänglich gemacht hat. Es war nicht alles Acid in den Sechzigerjahren.