Von Slackern und Scheiterern

Beim Saisonauftakt im Literarischen Colloquium Berlin gaben sich die Autoren und Autorinnen selbstbewusst, schnippisch und subversiv

Anke Stelling hat sich gut vorbereitet. Auf jede platte oder berechtigte Frage, die die beiden Moderatoren an diesem Abend im Literarischen Colloquium in Berlin stellen, weiß Stelling eine Antwort. Ob es leicht oder schwer gewesen sei, nach zwei Büchern mit ihrem Partner Robby Dannenberg mit „Glückliche Fügung“ erstmals ein Buch ganz allein zu schreiben, wird sie etwa gefragt. „Beides“, antwortet Stelling brav. Leichter, weil sie nun ihr eigener Chef gewesen sei, und schwerer, da sie sich nun allein hätte inspirieren und motivieren müssen. Oder warum ausgerechnet die Titelgeschichte ihre Bandes die einzige sei, in der den Figuren was gelingt und die einen glücklichen Ausgang hat? „Ja, das ist leicht zu erklären“, erwidert sie, „diese Geschichte ist meine jüngste, sie bildet literaturwissenschaftlich den Übergang zum nächsten Werk.“

Mit ihrer zeitweise aufblitzenden kecken Schnippischkeit deutet Stelling geradezu subversives Potenzial an – möglicherweise weil ihr bewusst ist, dass beim „Saisonauftakt“ im LCB in der Regel manches überflüssige Wort verloren wird, manche Frage nicht korrekt beantwortet werden kann, selbst wenn sie ganz profan „Wie sind Sie denn darauf gekommen?“ oder „Was macht man als Lyriker in Lüneburg?“ lauten.

Mag nun nicht für alle der beteiligten Autoren und Autorinnen das traditionelle Einläuten des literarischen Frühlings durch das LCB ein einziges Vergnügen sein, so ist es das in jedem Fall für das Publikum: Sechs neue Bücher werden hier vorgestellt, sechs meist jüngere Autoren und Autorinnen aus Berlin. Das ist kurzweilig, da sich kurze Lesungen und Gespräche munter abwechseln, und es bietet einen kleinen Überblick über aktuelle deutsche Literatur der Saison. Wenn man so will: Das Klagenfurter Wettlesen im Miniformat, nur ohne dessen gestrengen Prüfungscharakter. Doch wie so oft fehlt auch in diesem Jahr der eine große Trend; wie so oft sind die Biografien und Bücher zu unterschiedlich, als dass es zu mehr als den kleinsten gemeinsamen Nennern „Berlin“ und „Alter“ reichen würde. Auffallend ist dagegen die Abwesenheit eines nahe liegenden Genres wie dem Berlin-Roman oder der speziellen Berlin-Erzählung: An dem haben sich weder Marcus Jensen und Tobias Hülswitt mit ihren Romanen versucht, noch Felicitas Hoppe, Anke Stelling oder Françoise Cactus, schon gar nicht der Lyriker Jan Wagner.

Außer als Wohnort steht Berlin nicht mehr in den Charts und auf den literarischen Masterplänen – an dem großen, dem ultimativen Metropolenroman, der nach der Wende von der Kritik so gern eingefordert wurde, hatten sich in den Neunzigerjahren einfach zu viele mehr als verhoben. So kann man von kollektiver Scheiternvermeidung sprechen, von Dokumenten des Gelingens, insbesondere bei den Gedichten von Jan Wagner, der zum Teil so schöne wie schwierige alte lyrische Formen wie den Sonettenkranz erfolgreich revitalisiert.

Das Scheitern wird lieber innerhalb der Romane und Erzählungen thematisiert: Felicitas Hoppe trägt eines ihrer sechs historischen Porträts von „Verrätern und Versagern“ vor; Françoise Cactus liest aus ihrem Erzählband mit dem beziehungsreichen Titel „Neurosen am Valentinstag“ die Geschichte von Madame Rosa, die nicht mehr um ihren verstorbenen Gatten weint, mit ihren kurzen abgehackten Sätzen aber auch einen fröhlichen Stereo-Total-Song singen könnte; und Marcus Jensen lässt seinen toten Romanhelden Jens Behse wie vor kurzem erst Stewart O’Nan in „Halloween“ zurück auf die Welt kommen: als Geisterfahrer, der vom titelgebenden Helgoländer Oberland aus auf sein kurzes Leben in den Siebziger- und Achtzigerjahren blickt und von sich sagt: „Gut lebe ich niemals.“

Als „großen Wurf“ bezeichnen die Moderatoren Jensens fünfhundertsechzig Seiten starkes zweites Buch nach seinem schmalen 99er-Debüt „Red Rain“, als „Abgesang auf die BRD“, auch als Generation-X- und Slacker-Roman – alles Kategorien, die Jensen im Gespräch nicht so gelten lassen möchte: „Das Buch lässt sich vielleicht als Geisterroman lesen“, gesteht er, um dann unbescheiden anzufügen, „in jedem Fall aber ist die Konstruktion sehr, sehr komplex“. Stellt man dazu die Aussage Anke Stellings, dass sie sich mit ihrer Frau-liebt-vergeblich-Mann-Thematik eins mit ungefähr 85 Prozent der Weltliteratur wisse, erkennt man: An Selbstbewusstsein mangelt es der neueren deutschen Literatur auch in weniger rosigen Zeiten wie diesen nicht.

GERRIT BARTELS