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Archiv-Artikel

MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON BRIGITTE WERNEBURG Menüführung

Raimar Stange: „Zurück in die Kunst“. Rogner & Bernhard bei 2001, Hamburg 2003, 216 Seiten, 111 Abb., 19,95 €

Den Weg „Zurück in die Kunst“, wie Raimar Stange ihn in seiner gleichnamigen Darstellung nachzeichnet, braucht zuvor die Abwege. Doch nicht nur die aktuelle Kunst ging und geht neue, andere Wege, etwa in die Bereiche Ökonomie, Ökologie oder Naturwissenschaft und bricht so tradierte Kunstbegriffe auf. Auch das Schreiben über Kunst findet neue Routen und Routinen. Das belegt Stanges Band, der aus Magazinelementen wie dem standardisierten Interview besteht, oder der Marginalspalte mit kommentierenden Anmerkungen zu Popkultur, Politik und Theorie. Sie begleiten den Haupttext, der die Entwicklung der Kunstszene von den 90er-Jahren bis heute skizziert. Über die drei Menüleisten kann sich der Leser durch die Mischung von Reportagen über Atelier-, Galerie- und Ausstellungsbesuche, Künstlerporträts und aktueller Theorieproduktion navigieren, in der Stange den Versuchen zeitgenössischer Künstler nachgeht, auch außerhalb der sanktionierten Kunsträume zu arbeiten und sich so neue Freiräume für die Produktion und Rezeption ihrer Arbeiten zu erschließen.

Dass ihr Aufbruch in den frühen 90er-Jahren längst wieder in eine Rückkehr an die traditionellen Orte der Kunst mündete, diese Beobachtung regt Stange zu seiner These an, darin ein kalkuliertes „Zurück in die Kunst“ zu sehen. Die Künstler registrierten, dass „der Aufstand gegen den Status quo sich letztlich dort“, also in den traditionellen Räumen, „noch am ehesten ereignen kann“. Interessanterweise erweist sich die Rubrik „Interview mit …“ Franz Ackermann, Candice Breitz, dem verstorbenen Michel Majerus oder Olaf Nicolai, um nur einige der von Stange vorgestellten Künstler zu nennen, als die effektivste Methode, seine These in Frage zu stellen. Sobald alle Befragten auf die gleichen Fragen reagieren, etwa nach der „Kunst außerhalb der Kunst“, der „Zusammenarbeit in der Kunst“ oder wie politisch Kunst sein kann, stellt schnell heraus, dass bei ihnen momentan eher Skepsis herrscht, was die Möglichkeiten der Überschreitung angeht. Gerade im Widerspruch, der hier gegen die Intention angemeldet wird, zeigt sich Raimar Stanges etwas andere Buchführung, sein neues Schreiben über Kunst als erfolgreich. Stange stellt die neuesten Entwicklungen der Kunstszene über 15 Kapitel hinweg nicht nur überlegt, fundiert und anregend, sondern auch in unaufwändiger Weise kritisch dar.

Ausnahmefrau

Isabelle Graw: „Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts“. DuMont Verlag, Köln 2003, 272 Seiten, 68 Abb., 24,90 €

Ist die Chance, den Status quo zu verändern, in den traditionellen, den sanktionierten Räumen der Kunst wirklich am größten? Isabelle Graw könnte antworten: ja und nein. Diese Antwort, die immer wieder auf die – keineswegs rhetorischen – Fragen folgt, die sie sich in ihrem Buch „Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts“ stellt, ist auffälligstes Stilmittel ihres neuen Schreibens über Kunst. Die neue Route, die Isabelle Graw in ihrer kritischen Analyse des künstlerischen Werks etwa von Eva Hesse, Rosemarie Trockel, Agnes Martin oder Bridget Riley vorgibt, belegt ihren Mut, komplexe Antworten und Befunde zuzulassen. Dabei ist ihre Darstellung keineswegs kompliziert zu lesen, vielmehr besticht der kenntnisreiche Text durch seinen präzisen Stil. Nur drei Abschnitte benötigt Graw, um ihre Grundthesen zu formulieren, wie Künstlerinnen den Status quo in Frage stellen.

Zunächst diskutiert sie die „Kunst der Aneignung“ als vorrangiges künstlerisches Mittel. Dem immer schon gebrauchten Verfahren zur Ausbildung künstlerischer Fertigkeiten kam in den 80er-Jahren in Form der „Appropriation Art“ neue Legitimation zu, nämlich als Kunst Kritik zu praktizieren. Das Verfahren der Aneignung, zeigt Graw im zweiten Kapitel, „Frauen am Machtpol“, lässt sich konkret verorten. Es findet seine Vorgaben in den internationalen Kunstzentren, wo das Regelwerk erkennbar wird, gleichgültig, ob es formal-ästhetische oder kunstbetriebsinterne Fragen betrifft. In Paris oder New York lebten denn auch Künstlerinnen wie Georgia O’Keefe, Elaine de Kooning oder Meret Oppenheim, die in Graws Untersuchung die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts repräsentieren. Schließlich: Wenn Frauen mit dem Verfahren der Aneignung auch ganz strategisch den Prozess künstlerischer Anerkennung innerhalb des Kunstbetriebs im Blick haben, der sie in einer besonderen – gleichwohl nicht dem Biologischen geschuldeten – Situation sieht, lässt sich dieser Befund bei anerkannten, hoch gehandelten Künstlerinnen besonders gut untersuchen. Diese gelten freilich noch immer als „Ausnahmefrauen“, so das letzte Kapitel, wobei der Status der Ausnahme – das Draußen im Drinnensein – bekanntlich mehr über die Gesetze sagt, besser: verrät als Regel.

Ermöglicht ihr neuer, in der Form der Fallstudie abgefasster Zugang, den Isabelle Graw selbst als die Engführung von Kunstkritik und Kunstheorie definiert, so spezifisch wie strukturell zu argumentieren? Ja: Selbst die Ausnahmefrauen der Young British Art, wie Sarah Lucas, Tracey Emin oder Sam Taylor-Wood, die wenig Gnade in Graws werkimmanenter Betrachtung finden, werden im Focus des Kunstbetriebs doch honoriert, als Gruppe und damit als das mögliche Ende der Ausnahmefrauen.

Altbekannt

Harald Falckenberg: „Ziviler Ungehorsam. Kunst im Klartext“. Lindinger + Schmid, Regensburg 2002, 184 Seiten, ca. 50 Abb., 17,80 €

Ein Kunstsammler, der behauptet, „ziviler Ungehorsam“ stehe für zentrale Positionen seiner Erwerbungen, stehe für Werke von Künstlern, die sich nicht als Teil eines Systems verstünden, sondern der Angepasstheit und Willfährigkeit in unserer Gesellschaft Widerstand entgegensetzten, der freilich bewegt sich auf altbekannten, sehr traditionellen Wegen. Es gibt ihn also wieder, oder immer noch, den Künstler als gesellschaftlichen Außenseiter, dessen Werk, so Harald Falckenberg, „allein der Erkenntnis verpflichtet“ sei, wie er im Fall des 33-jährigen Shooting Stars Jonathan Meese, einem seiner Favoriten, meint.

Falckenberg ist ein relevanter Sammler. Der Vorsitzende des Hamburger Kunstvereins, Jurist, Unternehmer und ehrenamtlicher Richter am Hamburger Verfassungsgericht, begann Mitte der 90er-Jahre in rasendem Tempo eine Kollektion aufzubauen, die bis jetzt rund 1.200 „Positionen“ umfasst, wie man heute gerne sagt. Seine eigene Haltung sucht er nun in einer aktuellen Publikation unter dem Begriff „Ziviler Ungehorsam. Kunst im Klartext“ zu fassen. Doch sie bleibt in der Vielzahl der hier versammelten Artikel, Eröffnungsreden, Leserbriefen an die FAZ, Katalogbeiträgen und einem transkribierten Gespräch, höchst unklar.

Symptomatisch dafür ist sein Beitrag zu „Jonathan Meese. Jenseits von Gut und Böse“. Ähnlich wie der Künstler selbst, der für seine Sammelwut und seine uferlosen Referenzen berühmt und berüchtigt ist, verliert sich Falckenberg in einer Vielzahl von Vergleichen. Sie sollen die Unterschiede wie Verwandtschaften von Meeses Ansatz mit dem vom Anselm Kiefer, Joseph Beuys, Richard Wagner oder Kurt Schwitters, ganz zu schweigen von wenigstens einem Dutzend weiterer, nur aufgelisteter Künstler verdeutlichen, können es freilich nicht. Vielleicht ist das Absicht: Der Künstler als Außenseiter ist, wen wundert es, unvergleichlich, eine singuläre Erscheinung. Deutlicher wird die Faszination Falckenberg an Person und Lebensstil der immer männlichen Künstler, die er hofiert (u. a. Kippenberger, Oehlen, Mike Kelley, Paul McCarthy, Jason Rhodes, John Bock, Daniel Richter, Franz Ackermann oder Michel Majerus). Deutlich wird auch Falckenbergs Wunsch, sich als Stimme sowohl im kulturpolitischen wie im kunsttheoretischen Diskurs zu etablieren. Doch dazu mangelt es seiner Argumentation in jedem (einzeln nachzulesenden) Fall an Stringenz.

Neue Absprachen

Herta Wolf (Hrsg.): „Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2002, 467 Seiten, 15 €

Die Forderung nach einem neuen Nachdenken und Schreiben über die Fotografie wurde schon vor geraumer Zeit von Roland Barthes erhoben, als er befand, dass es zu ihr „nur wenige große Texte von intellektuellem Rang“ gebe. 1980, drei Jahre nach dem Interview, in dem er diese Feststellung traf, löste er diesen Anspruch mit seinem Buch „La chambre claire. Note sur la photographie“ selbst ein. Herta Wolf, Professorin für Geschichte und Theorie der Fotografie in Essen, nimmt Barthes’ Klage in ihrer Anthologie „Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters“ auf. Sie bestätigt einerseits, dass es Leittexte gebe, „die von denjenigen, die sich mit der Fotografie beschäftigen, immer wieder zitiert werden, die also im Sinne Thomas Kuhns als Paradigma einer wissenschaftlichen Gemeinschaft fungieren“. Andererseits hätten es aber nur wenige Autoren unternommen, diese Leittexte kritisch zu lesen, sie nutzten sie vielmehr als Beleg.

Wolfs Ehrgeiz war es daher, in ihrem Band diskursanalytisch relevante Texte zu versammeln und mit Aufsätzen etwa von Jonathan Crary, Rosalind Krauss, Allan Sekula, Friedrich Kittler oder Hal Foster, die, indem sie die Leittexte differenziert verhandelten, selbst zu Leittexten wurden, eine Anthologie zweiter Ordnung zu erstellen. Damit sind die entscheidenden Grundlagentexte endlich auf Deutsch greifbar, auch wenn man, wie immer bei Anthologien, den einen oder anderen Text vermissen mag. Die neue Route, die Wolfs These vom Ende des fotografischen Zeitalters provoziert, skizziert Wolfgang Hagen mit seiner „Genealogie der digital-elektronischen Bildaufzeichnung“, die den Titel „Die Entropie der Fotografie“ trägt. Gewöhnungsbedürftig in der Sprachroutine des digitalen Zeitalters: „Nicht die Digitalisierung ist die Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern die Quantenmechanik, die ihre technische Implementierung erst ermöglicht hat.“

Die Quantenmechanik bezeichnet den unhintergehbaren epistemischen Bruch, der zwischen analoger Fotografie und digitaler Aufzeichnung verläuft. Nicht am Referenten nämlich, sondern am hoch entropischen Film, der belichtet nie mehr in seine unbelichtete Form zurückgeführt werden kann, haftet Roland Barthes’ berühmtes „Es ist so gewesen“ der Fotografie. Dagegen bleibt die digitale Fotografie dank der Quantenmechnik vollständig reversibel. Digitale Fotografie ist Messung, ein Signalwert, eine Zahl. Und Messung, das gilt es zu akzeptieren, „ergibt niemals das Zeichen des Dings“. In politischer Hinsicht braucht es daher neue Verabredungen über die Zeugenschaft und Beweiskraft relevanter Kommunikation.