das fenster zur welt von EUGEN EGNER
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Das unscheinbare Mehrfamilienhaus aus den Sechzigerjahren, in dem ich seit zwei Jahrzehnten wegen des günstigen Mietpreises wohne, ist im vergangenen Sommer neu verglast worden. Mein Arbeitszimmer weist seither ein Kunststofffenster mit extradicken „Lärmstopp“-Scheiben auf. Leider ist beim Einbau versäumt worden, die Lücken zwischen Kunststoffrahmen und umgebender Wand mit irgendetwas, und sei es Isoliermaterial, zu schließen. Wer an dieser Misere schuld ist, ob Arbeiter oder Architekten, lässt sich heute nicht mehr herausfinden. Ich aber muss bestimmt fünfzigmal am Tag zum Fenster laufen, um es zu schließen, weil es klingt, als stünde es weit offen, stelle aber stets wieder fest, dass es geschlossen ist. Durch die mehr als fingerdicken Ritzen rings herum dringt jedes Außengeräusch nicht nur ungefiltert, sondern auf geheimnisvolle Weise sogar verstärkt ein, und von der heulenden Zugluft flattern mir die Haare.

Für einen ausgesprochen klaustrophil veranlagten Menschen wie mich sind dies keine idealen Lebensbedingungen, von heiztechnischen Überlegungen ganz zu schweigen. Auch der konzentrierten Arbeit am Text kommen derartige Umstände nicht zugute. Aber immerhin ist es ihnen zu verdanken, dass ich vom Schreibtisch aus ein denkwürdiges Zwiegespräch wenigstens teilweise belauschen konnte, das unlängst in der über hundert Meter entfernten Parallelstraße stattfand. Es sei hier getreulich wiedergegeben.

Vor einer Haustür stand, wie ich dank meiner Fernbrille sehen konnte, ein junger Mensch in einer wie aus Brettern zusammengenagelten Uniform. Entsprechend seiner religiösen Überzeugung hatte er nur ein Hosenbein angezogen, das andere, etwas längere, reichte quer über den ganzen Bürgersteig. Reglos in sich ruhend, war er ganz er selbst und spuckte unablässig unter seiner grindig vergreisten Schirmkappe hervor. Falls es eine Art der Meditation war, die er praktizierte, war ihm das Ausschalten der Gedanken zweifellos gelungen (Was mochte sein Mantra sein?).

Eine Postbotin war unterdessen damit beschäftigt, ihrem gelben Wägelchen diverse Briefe zu entnehmen und diese, wie es ihr Berufsbild vorschrieb, in die dafür vorgesehenen Briefkästen zu stecken. Das Bewusstsein des Halbbehosten schien aus jenseitigen Gefilden zurückzukehren. Er lenkte seinen erstaunten Blick auf das Tun der Postbotin und fragte diese: „Was tun Sie denn da rein?“ – „Briefe an die Leute, die hier im Haus wohnen“, war die Antwort. „Warum?“, fragte der junge Mensch. „Weil ich Briefträgerin bin.“

Einen Moment lang schwieg der Frager. Es arbeitete in ihm. Vollständig zufrieden war er aber nicht, da war noch ein ungeklärter Rest, das konnte ich ihm ansehen. Wirft nicht jede Antwort zehn neue Fragen auf? So auch hier. Die erste lautete: „Und die … Briefe, oder wie das heißt, haben Sie die alle selbst geschrieben?“

Was die Briefträgerin darauf antwortete, konnte ich leider nicht verstehen, weil in der Nachbargemeinde jemand eine leere Wodkaflasche in den Altglascontainer warf.