piwik no script img

Archiv-Artikel

Getoastetes Mischbrot statt Schokolade

Eva Maria Friedrichsen ist 77-Jahre alt und lebt von der Sozialhilfe – freiwillig. Der sechswöchige Eigenversuch ist nicht mit der Realität vieler Sozialhilfeempfänger vergleichbar. Trotzdem sensibilisiert er für vielfältige Probleme

Bremen taz ■ Blumen auf dem Balkon? Zu teuer. Nudeln mit billigem Schmelzkäse? Lecker ist das nicht, aber es kostet wenig. Ein neues Buch kaufen? Nein, die Angebote der Stadtbibliothek müssen genügen. Es sind viele neue Gedanken, die sich Eva Maria Friedrichsen neuerdings machen muss. Seit dem 22. Februar lebt die 77-Jährige wie 48.000 andere Menschen in Bremen von der Sozialhilfe. Probehalber, als „persönliche Fastenaktion“ vor Ostern, wie sie sagt.

In ihrem Alltag ist sie deswegen vor allen Dingen mit einem beschäftigt: mit Rechnen. 296 Euro stehen ihr monatlich zur Verfügung. Das ist der Sozialhilfesatz, den ein Haushaltsvorstand erhält. Dazu kommt Geld für die Miete, deren Höhe „angemessen“ sein muss. Angemessen bedeutet, dass die Wohnung 50 Quadratmeter groß sein darf und die Kaltmiete bei maximal 265 Euro im Monat liegt. Bekleidungsgeld gibt es auch noch zwölf Mal im Jahr, 23 Euro und ein Cent. „Ich habe furchtbar viel herumgerechnet was ich mir noch leisten und worauf ich verzichten kann“, sagt Eva Maria Friedrichsen. Einige Dinge sind unverzichtbar. Die Gelder für Strom, Telefon, Hausrat- und Haftpflichtversicherung sind fest verplant. Harte Entscheidungen standen bei übrigen Kostenpunkten an. Die Zeitung abbestellen oder die Monatskarte für Bremens öffentliche Verkehrsmittel? Die ehemalige Sozialarbeiterin entschied sich gegen die Zeitung. „Das kam mir morgens ganz schön leer vor.“

Ihr Budget hat die Rentnerin penibel portioniert. Sechs Wochen lang soll ihr Experiment dauern. 40 Euro sind in diesem Zeitraum für den Besuch von kulturellen Veranstaltungen verplant, 30 Euro für Bekleidung. Für Haushalt, Hygiene und Medizin blieben damit 30 Euro pro Woche. „Ich habe aber 41 Euro ausgegeben in der letzten Woche.“ Deswegen hat sie jetzt das Internet abgestellt. Keine Zeitung, keine Bücher, kein Internet. Und springt in die von Medienwissenschaftlern entdeckte „Wissenskluft“. Die besagt, dass Menschen, die die Fähigkeit haben, mit der wachsenden Medienvielfalt umzugehen, einen enormen Informationszuwachs gewinnen werden. Viele andere hingegen haben nicht einmal dieselben Zugangsmöglichkeiten, um mehr über ihre Umwelt zu erfahren. Eva Maria Friedrichsen erfährt dies gerade am eigenen Leibe. Immerhin kann die sozial engagierte Rentnerin auf intakte Beziehungen zurückgreifen, die ihr aushelfen. Die ausgelesene Zeitung der Nachbarin genügt jetzt auch und Freunde bieten an, ihr die Fahrten zu bezahlen, wenn sie sie einladen. Manche Hilfen nimmt sie an, einige lehnt sie ab. Das Gefühl, anderen auf der Tasche zu liegen, stelle sich schnell ein, sagt sie. Ein Grund, warum viele, die den Anspruch hätten, den Weg zum Sozialamt scheuen. Auch die Rolle des aufgeklärten Verbrauchers, der gezielt einkauft, kann sich Friedrichsen nicht mehr leisten. Gerne kauft sie Lebensmittel im Weltladen, um den fairen Handel zu unterstützen. Oder aber sie holt ihr Gemüse vom Ökomarkt. Beides ist jetzt zu teuer. Dafür führt sie jetzt streng Buch über Produkte von Discount-Supermärkten, die ihr zusagen.

Trotz aller Einschnitte ist sich die Sozialhilfeempfängerin auf Zeit aber sehr bewusst, dass ein Vergleich mit den wirklichen Lebensumständen vieler Stützesuchender hinkt. „Meine Wohnung ist natürlich sehr gut ausgestattet und alles funktioniert. Das ist ein ganz anderer Hintergrund“, räumt sie ein. Die Reparatur einer Waschmaschine beispielsweise, gibt sie zu Bedenken, würde alles „Centumdrehen“ hinfällig machen. Doch auch wenn die Aussagekraft des Eigenversuchs nicht überbewertet werden darf, so manche Selbstverständlichkeit hat die 77-Jährige neu überdacht: „Sonst langt man abends immer zur Schokolade. Gestern habe ich mir zwei Stücke Mischbrot in den Toaster gesteckt. Das schmeckt auch.“ H. Schleper