: Kafka kam nie nach Amerika
Cannes Cannes (II): Was kann man von einem Festival erwarten, das auf Film als schöne Kunst setzt? Nicole Kidman opfert sich bei Lars von Trier, Vincent Gallo graut es vor einem starken Frankreich
von CRISTINA NORD
Konnte Penélope Cruz den Eröffnungsabend retten?, fragte ich gestern und weiß es heute nicht zu sagen. Zum einen, weil die Zeremonie im Grand Théâtre Lumière beginnt, nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, zum anderen, weil sich zum Zeit- ein Raumproblem gesellt und ich, wie gestern berichtet, von einem Streik der Lehrer, Postboten, Fluglotsen und Zugführer an der rechtzeitigen Ankunft in Cannes gehindert wurde.
Die Ehre, die Zeremonie zu moderieren, sollte der italienischen Schauspielerin Monica Bellucci zukommen. Bellucci gab im letzten Jahr in Gaspar Noés Wettbewerbsbeitrag „Irréversible“ ein Vergewaltigungsopfer, das von Noé hübsch provokativ in ein silbernes Dress gehüllt wurde. In diesem Jahr gibt sie in „Matrix Reloaded“ die Figur der Persephone. Kampfkunst-Szenen wie Keanu Reeves habe sie leider nicht gedreht, sagte Bellucci und verwies, so meldete es dpa, „auf ihr knappes Kostüm“.
„Das war ein schwieriges Jahr“, sagte der künstlerische Leiter der Filmfestspiele, Thierry Frémaux, schon Ende April, als er die 20 Wettbewerbsfilme vorstellte. Einige Regisseure, deren neue Arbeiten man gerne in Cannes gesehen hätte, sind nicht rechtzeitig fertig geworden, etwa Quentin Tarantino („Kill Bill“), die Coen-Brüder („Intolerable Cruelty“) oder Wong Kar Wai („2026“). Und während sich im vergangenen Jahr die Politik recht umstandslos ihren Weg ins Festivalprogramm bahnte, scheint es in diesem Jahr vornehmlich darum zu gehen, den Film als schöne Kunst zu betrachten.
Was nichts Böses heißen soll, im Gegenteil. Stellte etwa Michael Moore vor einem Jahr mit „Bowling For Columbine“ einen politisch überhitzten, gefräßigen Dokumentarfilm über das Schulmassaker in Littleton vor, so steht es jetzt Gus Van Sant frei, mit dem Spielfilm „Elephant“ dem Sujet gerechter zu werden. In der aktuellen Ausgabe der Cahiers du Cinéma sagt Van Sant über die Arbeit des Kollegen: „Ich hatte den Eindruck, mir einen Exploitationfilm anzuschauen, so sehr wurden die TV-Bilder und die Kommentare dramatisiert.“ „Elephant“ hingegen solle dem Umstand Rechnung tragen, „dass die Situationen, die man durchlebt, nicht notwendigerweise auf dramatische Art organisiert sind. Auch die Dialoge dienen nicht unbedingt dazu, dass man Informationen daraus bezieht.“
In derselben Zeitschrift rechtfertigt Lars von Trier, dass er nach „Dancer in the Dark“ nun auch seinen neuen Film „Dogville“ in den USA spielen lässt, obwohl er noch nie dort war. Humphrey Bogart sei nie in Casablanca gewesen, und „Kafka hat einen sehr interessanten Roman geschrieben, der ‚Amerika‘ heißt, und er war auch nie in den USA“. „Dogville“ spielt in einer Stadt in den Rocky Mountains in den Dreißigerjahren, zu Zeiten der großen Depression. Eine fremde Frau, Grace (Nicole Kidman), sucht hier Zuflucht. Dafür, dass die Ansässigen sie ihr gewähren, belohnt sie sie mit der aufopferungsvollen Haltung, die man von den Frauenfiguren Lars von Triers kennt. Mit dem Unterschied, dass die Selbstaufgabe diesmal nicht bis zum Äußersten reicht, Grace den Film überlebt und noch zwei Teile einer Trilogie vor sich hat. Diese Verschiebung und das Ensemble (neben Kidman agieren unter anderem Lauren Bacall, Ben Gazarra und Chloë Sevigny) machen „Dogville“ zweifellos zu einem der Filme, die aus dem Wettbewerbsprogramm herausragen.
Ressentiments wider das Alte Europa sollten in Cannes genauso wenig verloren haben wie Antiamerikanismus. Trotzdem übte sich einer, ein Hipster noch dazu, im French-Bashing. Der aktuellen Ausgabe der Vogue vertraute der mit „The Brown Bunny“ im Wettbewerb vertretene Schauspieler und Regisseur Vincent Gallo an: „Das hasse ich an Europa, besonders an Frankreich, wo sie ihre Ahnungslosigkeit auch noch intellektualisieren. Diese Reaktionen auf Amerikas Politik langweilen mich, das ist so alt. Wenn man sich ein anderes Land aussuchen könnte, das ab sofort ebenso mächtig wäre wie die USA, würde man es doch mit der Angst bekommen. Stell dir vor, Frankreich hätte diese Stärke, Großbritannien oder Russland. Ein Albtraum!“
Wenn heute an der Croisette ein Tag des europäischen Kinos zelebriert wird, muss Gallo sich nicht fürchten: Er kann sich „Matrix Reloaded“ ansehen. Und wäre, wie Nicole Kidman kürzlich vorführte, die Größe der Nase ein Indikator für die Preistauglichkeit eines Filmschaffenden, Vincent Gallo dürfte sich seiner Palme gewiss sein.