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Archiv-Artikel

Die kleine große Kämpferin

Wir sind verdammt zum Warten – eine Behinderung kann sich noch bis zum dritten Jahr herausstellen

Protokoll ULRICH SCHULTE

Ich hätte mir fast gewünscht, dass mein Körper einen Schutzmechanismus eingebaut hat. Vielleicht ein rotes Schild im Kopf, das anfängt zu blinken und warnt: Vorsicht, dieses Kind kann jederzeit sterben, steigere dich nicht zu sehr hinein. Leider gibt es das nicht.

Ich habe Carmina zum ersten Mal gesehen, und sie war sofort meine Maus. Da war nichts, was mich gebremst hätte, sie zu lieben. An ihren Anblick musste ich mich trotzdem gewöhnen – obwohl ich einen Kursleiterschein für Babymassage habe und mich gut mit Säuglingen auskenne. Sie lag im Brutkasten, so groß wie eine kräftige Männerhand, mit 735 Gramm so schwer wie drei Päckchen Butter, und unter all den Schläuchen fiel es schwer, überhaupt Kind zu erkennen. Das Seltsamste war ihre Haut. Sie glänzte, wie mit Tesafilm überzogen. Hände und Füße wirkten im Gegensatz zum Rest unheimlich groß, die Arme dagegen wie Stöckchen, denn Frühchen haben überhaupt keinen Babyspeck.

Von Anfang an, schon auf den Ultraschallbildern, ist mir ihr markantes Gesichtchen aufgefallen. Deshalb habe ich sie nach der Carl Orff’schen Oper „Carmina Burana“ benannt. Deren Musik finde ich genauso lebendig und eindrucksvoll wie das Gesicht meiner Carmina. Sie ist nach Antonia unsere zweite Tochter, unser absolutes Wunschkind und ein so genanntes „26 plus eins“-Frühgeborenes. Sie lebte nur 26 Wochen und einen Tag in meinem Bauch, kam also gut drei Monate zu früh zur Welt.

Ihre Welt – und auch meine – war dann ein Vierteljahr die Intensivstation. Probleme tauchten eigentlich schon Ende des zweiten Monats auf. Ich blutete ab und zu, hatte Bauchschmerzen und fühlte mich oft schlapp. Eine Ultraschalluntersuchung in der Klinik ergab, dass ich eine Placenta praevia, einen vorgelagerten Mutterkuchen, habe. Ich habe ab dem vierten Monat zu Hause auf dem Sofa gelegen, später dann in der Klinik noch einmal fünf Wochen.

Am Donnerstag, den 28. November 2002, ging es los. Die Wehen waren plötzlich nachmittags da, in kurzen Abständen, alle zehn Minuten. Eine Freundin saß neben meinem Bett, hinter ihrem Rücken habe ich schon ständig nach der Uhr geschielt. Ich habe versucht, die Wehen wegzureden, doch sie kamen wieder und wieder, alle zehn Minuten. Gegen acht Uhr, „Tagesschau“-Zeit, ging es mir etwas besser, mein Mann hat mir Brötchen mit Würstchen und Kassleraufschnitt mitgebracht, die ich mit großem Genuss verzehrt habe. Dann zog sich in meinem Bauch wieder alles zusammen, neue Wehen, diesmal alle drei Minuten, und selbst die doppelte Dosis Wehenblocker über Tropf und Tabletten hat nichts mehr gebracht.

Mein Ziel war eigentlich die 28. Woche, dann ist die Kindeslunge schon fast ausgereift. Ich befand mich die ganze Zeit in einem Widerstreit: Einerseits bat ich, bitte bleib noch ein bisschen drin, andererseits dachte ich, mich muss man auch irgendwann erlösen. Das Blut lief und lief und lief. Dann war mir klar: Ich will jetzt nicht mehr. Als ich das ausgesprochen hatte, ging alles sehr schnell. Ich fiel in einen Wehenblock. Die Herztöne des Kindes wurden sehr schlecht. Alles um mich herum raste. Einer schob das Bett, einer rasierte, der Anästhesist fragte, wie viel wiegen Sie, dann war ich weg. Ein Notkaiserschnitt.

Als ich aufwachte, hatte mein Mann die Kleine schon gesehen. Er brachte ein Foto mit und erzählte stolz: Ich habe schon ihren Arm gedrückt. Wir waren völlig euphorisch, ich habe meine Bettnachbarin bis drei Uhr nachts voll gequatscht. Dieses große Gefühl hielt zwei Tage an. Dann hat uns eine Ärztin mit ernster Miene beiseite genommen. Carminas Leber war stark vergrößert. Sie endet normalerweise bei den Rippen, bei ihr reichte sie bis hinunter zum Becken. Auch die Milz war viel zu groß. Die Ärzte vermuteten eine CMV-Infektion, ein Stammvirus, das für mehrere Krankheiten wie Hepatitis, Windpocken oder Herpes zuständig ist. Ich muss mich während der Schwangerschaft mit Herpes angesteckt haben. Es lag also nicht an dem vorgelagerten Mutterkuchen. Stattdessen hat mein Körper die ganze Zeit versucht, das Kind abzustoßen. Carmina war todkrank.

Mit der Zeit ging es ihr immer schlechter. Die Lunge war sehr unreif und durch das Virus angekratzt. Das Lungengewebe drohte in der dritten Woche durch die stärkere Beatmung zu reißen. Sollten die Ärzte ihr noch einmal lungenstärkendes Kortison geben? Auch auf die Gefahr hin, dass das Herpes-Virus dann ihren noch mehr geschwächten Körper überrennt? Eine Alles-oder-nichts-Frage. Ich entschied dafür, hauptsächlich wegen der guten Argumente von Dr. Kühn.

20 Minuten später hat eine Krankenschwester im gleichen Zimmer ein Kind abgekabelt. Der Tod war plötzlich so nah. Ich habe natürlich gewusst, dass mein Kind Tag für Tag sterben kann – wirklich realisiert habe ich es nicht. Das Kortison hat Carmina einen Schub nach vorne gegeben. Die Ärzte haben ihr mit dieser Entscheidung das Leben gerettet. Aber das Bild des abgekabelten Kindes hat mich noch lange begleitet. Vor fünf Wochen ist ein Junge gestorben, der eigentlich aus dem Gröbsten heraus war. Sein Vater hatte mir noch einen Prospekt für Kleinkind-Autositze gezeigt.

Wenn ich alleine am Brutkasten bei Carmina saß, konnte ich kaum normal mit ihr reden. Ich fing sofort an zu weinen. Ich habe ihr dann Bücher vorgelesen und natürlich immer wieder die Spieluhr aufgezogen, die an ihrem Brutkasten hing. Guten Abend, gute Nacht. Wenn ich sie berühren wollte, habe ich sie erst um Erlaubnis gefragt. Frühchen mögen wegen der empfindlichen Haut normales Streicheln nicht, sie können davon sogar Herzrasen oder Atemnot bekommen. Die Klinikzeit war für uns ein ständiges Auf und Ab. Nachts habe ich meine Tage verarbeitet. Ich lag wach und spielte im Kopf alle Möglichkeiten durch: Wie bauen wir bloß die Wohnung für einen Rollstuhl um? In diesen Monaten war ich entweder angespannt oder ich bin vor Erschöpfung eingeschlafen.

Ich bin wirklich froh, dass uns das erst mit Carmina passiert ist. Wäre sie mein erstes Kind gewesen, wäre ich wohl verrückt geworden. Am Silvestertag hat uns der Chefarzt erklärt, welche Folgeschäden Carmina bleiben könnten. Feiern fiel für uns aus, das Gespräch hat meinen Mann sehr mitgenommen. Was, wenn sich unser Leben völlig ändert? Er hat die Frage nicht egoistisch gestellt, es war Angst. Erst wenn man dieses erste Erschrecken bewältigt hat, kann man nach Lösungen suchen. Nachdem er das erste Mal Carmina auf dem nackten Bauch liegen hatte, kam er nach Hause zurück und meinte: Jetzt fühle ich mich erstmals wie ein zweifacher Vater.

Wir sind verdammt zum Warten – eine Behinderung kann sich noch bis zum dritten Lebensjahr herausstellen. Bis jetzt sieht aber alles sehr gut aus. Ich habe Carmina vor gut zwei Wochen nach Hause geholt, sie ist sofort auf der Wohnzimmercouch eingeschlafen. Mein erster freier Vormittag seit Monaten. Ich konnte fernsehen und zappen. Ein unglaublicher Luxus. Auf Carminas Bauch klebt noch die Elektrode für einen Atemüberwachungsmonitor. Der passt auf, dass sie nicht zu tief einschläft. Wir haben Glück gehabt. Die Krankenschwestern haben gesagt: So klein wie Carmina ist, so ist sie doch eine große Kämpferin.