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: Schuldig bei Verdacht – mit Sicherheit die falsche Idee

Nach Terrorangriffen wie in Madrid schlägt die Stunde der grammatikalischen Komparative und politischen Superlative. „Teuflischer“, hieß es gestern in einer Zeitung, könne „das Böse nicht auftreten“ – und gar stehe nichts weniger als die Existenz der Bundesrepublik auf dem Spiel.

Eine solche Neigung zur Übertreibung ist nach den Anschlägen von Madrid verständlich. Die Täter treibt offenbar weniger ein halbwegs rationales, politisches Ziel als vielmehr nihilistische Todesfaszination. Deshalb ist es anders als bei der palästinensi schen Hamas oder den tschetschenischen Terroristen fast unmöglich, eine politische Antwort auf ihre Handlungen zu geben. Zudem haben die Bilder aus Madrid gezeigt, wie verletzbar zivile Demokratien angesichts von Fundamentalisten auf dem Todestrip sind. Die Bedrohung durch islamistische Terroristen in Europa ist keine Fantasie von durchgeknallten Sicherheitsexperten, sondern eine Tatsache.

Dieser diffuse Angriff hat uns unsere Hilflosigkeit vor Augen geführt – und es gibt keinen wirksamen Schutz. Umso stärker ist offenbar die Neigung, dies durch markige Worte zu überspielen. Klüger macht diese steile Rhetorik nicht – im Gegenteil. Das Beste, was man über sie sagen kann, ist, dass sie gewöhnlich mit der Aufregung wieder verschwindet.

Auch Innenpolitiker sind höchst Superlativ-bedroht. Oft nutzen sie kollektive Verunsicherungen, um sich als jene zu inszenieren, die jetzt wissen, wo es langgeht. Der CSU-Minister Günter Beckstein zum Beispiel fordert, dass nun mehr Telefonüberwachung möglich sein muss. Doch in kaum einem Rechtsstaat ist es so einfach, Telefone abzuhören wie hierzulande. Nirgends werden so viele Telefongespräche abgehört wie in Deutschland.

Bei Innenminister Otto Schily klingt das anders, besonnener und weniger atemlos als bei der konservativen Konkurrenz. Er will eine EU-Sicherheitskonferenz, er hat die Kontrollen auf Bahnhöfen und an den Grenzen verstärken lassen. Das ist richtig, weil es helfen könnte, Attentate zu verhindern und vielleicht auch nur, weil es nutzt, die „gefühlte Sicherheit“ zu verbessern. Auch das ist in unklarer Lage legitim. Mehr als zweifelhaft indes ist Schilys Ankündigung, künftig auch Ausländer abzuschieben, die nicht verurteilt worden sind. Der Terrorverdacht soll ausreichen – doch „schuldig bei Verdacht“ passt mit Sicherheit nicht in einen Rechtsstaat. Gesetze, die aus Stimmungen gemacht werden, auch nicht. STEFAN REINECKE