: Für Dziga Vertov
Jason Swinscoes Gespür für Bilder: „Man With A Movie Camera“ mit dem Cinematic Orchestra in der Volksbühne
Wir müssen uns das Cinematic Orchestra als glückliche Band vorstellen. Denn die Supergroup des Londoner Ninja-Tune-Labels gehört zu jenen Gruppen, deren Name exakt die erzeugte Musik beschreibt. Mit der Vertonung eines Stummfilms-Klassikers, nämlich Dziga Vertovs „Man With A Movie Camera“ aus dem Jahr 1929, muss das Cinematic Orchestra Bildern folgen, statt selbst welche zu erzeugen.
Das Sextett um Jason Swinscoe versteht sich auf elegische Instrumentaltracks. Stets auf der Suche nach Stimmungen begnügt sich Swinscoe allerdings nicht damit, den Sound der Jazz-Größen aus den Spät-Sixties zu wiederholen. Freimütig nennt er Coltrane und Sanders zwar als Vorbilder, an denen er sich orientiere. Doch Nostalgie entsteht trotzdem nicht, sie erzeugen mit eigenen Mitteln Tiefe.
So manipuliert das Cinematic Orchestra seine Musik mit Hilfe von Samplern und Effektgeräten. Das erste Album „Motion“ entstand sogar vollständig am Rechner Swinscoes. Doch enttäuscht über die Ignoranz der Jazz-Kritik beschloss der Produzent nach Erscheinen der Platte 1999, eine feste Band um sich zu scharen. Als damaliger Export Manager von Ninja Tune kannte Swinscoe einen Mitstreiter bereits seit Jahren: Patric Carpenter deejayte und bediente die Roland 606 Drum Machine bei DJ Food.
Im vergangenen Jahr erspielte sich diese Besetzung mit „Every Day“ ein tief wirkendes, melancholisches Album. Mit einigen wenigen Soloparts, mit Streicher-Loops und langsamen Beats widerlegte das Cinematic Orchestra das Vorurteil, der Formel „Downbeat plus Jazz“ sei längst nichts mehr abzuringen. Dies wird sich auch auf der Mitte Juni anstehenden nächsten Veröffentlichung des Orchestras bestätigen, auf „Man With A Movie Camera“, der Vertonung des erwähnten Stummfilms. Dziga Vertov drehte die Montage aus Bildern, die an einem Tag in Moskau entstanden. Die Organisatoren des Porto Film Festivals mussten, als sie 1999 Jason Swinscoe mit der Vertonung des Films beauftragten, gleich die Parallelen von Cinematic Orchestra und Regisseur Vertov erkannt haben. Denn der überzeugte Kommunist Vertov sah im Film die Möglichkeit, das Sehvermögen zu erweitern. Cinematic Orchestra erweitern das Hörvermögen. Nur, dass sie keine Kommunisten sind. CHRISTOPH BRAUN
Heute, 22 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz