: Wirklichkeitssinn mit Hubschrauberbrille
Cannes Cannes (III): Es geht um Schauspielkunst! Und natürlich, wie stets in Cannes, immer auch um das Verhältnis zwischen den USA und Frankreich. Begegnungen mit Henri Behar, der die Pressekonferenz des Filmfestivals moderiert, bei der Audienz mit den Akteuren von „Matrix Reloaded“
von CRISTINA NORD
Henri Behar muss man mögen. Eine Sonnenbrille trägt er, die an die Front eines Hubschraubers erinnert, so groß und gewölbt sind die schwarz getönten Gläser. Er hat sie sich auf den Kopf geschoben, dorthin, wo sich sein weißes Haar ein wenig ausdünnen könnte, möglicherweise. Er raucht eine Zigarette nach der anderen. Er trägt dicke Ringe an den Fingern. Eine schwarze Weste mit vielen Taschen umhüllt seinen im Vergleich zum Vorjahr fülliger gewordenen Leib, und ein bunt geringelter Schal liegt auf seinen Schultern.
Behar ist der Kleiderordnung dieses in seine Ordnungen so verliebten Festivals um Jahre voraus, oder er hinkt ihr Jahre hinterher. Aber das ist vermutlich dasselbe (als ich vor einigen Jahren einmal ein Interview mit Chloë Sevigny hatte, war ich erstaunt über den Rüschenkragen ihrer Bluse. Wenn ich heute in ein H&M-Schaufenster blicke, weiß ich, warum sie ihn trug). Noch etwas anderes hat Behar dem Rest voraus: Wo das Personal angestrengt in die Welt blickt, ist er freundlich und zu Scherzen aufgelegt; seine Augen blitzen im Licht der Strahler. Dankbar ist man für diese rare Erscheinung in den Sälen und Gängen des Palais du Festival, den zu mögen Liebhabern von Festungsarchitektur vorbehalten sein soll.
Henri Behar hat das Vergnügen, die Pressekonferenzen des Wettbewerbs zu moderieren. Er tut dies souverän, ein wenig divenhaft vielleicht, und er weiß, wie und wann er die Seiten wechselt: Wenn die Journalisten dumme Fragen stellen, zieht es ihn auf die Seite der Stars. Reden die Stars dummes Zeugs, hakt er nach. Das verleiht selbst noch den Pressekonferenzen Würde, in denen die Schauspieler und Regisseure nicht müde werden zu betonen, wie toll die Dreharbeiten waren, wie gut die Zusammenarbeit, wie großartig die Kollegen. Womit wir bei „Matrix Reloaded“ wären. Behar fragt: Wie es denn sei, wenn man, statt in der Kulisse und mit einem realen Gegenüber, vor dem Blue Screen agieren müsse, damit hinterher die Spezialeffekte stimmen. Monica Bellucci antwortet: „Alle reden vom Blue Screen oder von Spezialeffekten. Aber darum ging es gar nicht. Es ging um Schauspielkunst!“
Bellucci gibt die Figur der Persephone. Ihrer weißen Kostümierung und der hochhackigen Schuhe wegen muss sie von allem Kung Fu absehen. Wirklich traurig scheint sie darüber nicht zu sein. Behar bleibt beharrlich, und die anderen Schauspieler auf dem Podium, Keanu Reeves, Carri-Anne Moss, Laurence Fishburne und Hugo Weaving, weichen der Frage nicht mehr so weit aus wie Bellucci. Weaving sagt: „Es ändert nicht so viel, aber es kostet mehr Zeit, vor dem Blue Screen zu drehen.“ Zwei US-Journalisten sprechen das Verhältnis zwischen ihrer und der französischen Regierung an. Habe jemand aus dem „Matrix“-Team gezögert, nach Cannes zu kommen? Durch die Salle Buñuel geht ein Raunen. Will man solche Fragen hören? Nein. Und auf dem Podium will niemand antworten. „It’s a legitimate question!“, rechtfertigt sich einer der beiden Fragesteller. Behar kontert: „Yes, it’s a legitimate question. But you better make it a short one.“
Nur einmal vergreift sich Behar im Ton. Ein Journalist würde gerne eine Frage an die Regisseure Andy und Larry Wachowski richten. Die sind nicht nach Cannes gekommen, also muss er mit dem Produzenten, Joel Silver, Vorlieb nehmen. Ob der sich vorstellen könne, dass nicht Maschinen, sondern eine Nation oder Gruppe die Macht innehabe in „Matrix Reloaded“? Joel Silver scheint nicht der Typ, der sich etwas vorstellen kann, was nicht ist. Behar springt ihm zur Seite: „Der Film ist, was er ist. also sehen Sie bitte vom ‚Was wäre wenn‘ ab“. Vor zu viel Wirklichkeitssinn ist niemand gefeit in diesen ersten Festivaltagen.