: Prognosen unter Wasser
Die Zukunft der Arbeit (Teil 1): Was sollen wir werden? Was sollen wir tun in Zeiten knapper Arbeit? Ein Ratgeber aus den Siebzigerjahren gibt praktische Tipps für das Berufsleben im 21. Jahrhundert
Gibt es eine Zukunft für die Arbeit? Muss es überhaupt eine Zukunft für die Arbeit geben? Und was bedeutet Arbeit überhaupt? Jan Brandt eröffnet heute eine Serie zu diesem Thema. Die nächsten Folgen handeln vom Lob der Langeweile, dem steinigen Weg zurück zur Uni sowie Klassenunterschieden innerhalb der arbeitslosen Boheme
von JAN BRANDT
Zu meinem Uni-Abschluss schenkte mir meine Mutter ein Taschenbuch. Sie hatte es 1974, im Jahr meiner Geburt, für mich gekauft in der Hoffnung, es werde mir eines Tages helfen, nach dem Studium einen Job zu finden. Auf dem Cover ist ein Junge mit Koteletten abgebildet, der ein weißes Hemd und einen hellblauen Pullunder mit orangefarbenen Blumen trägt, und meine Mutter meint, dass er mir ein wenig ähnlich sieht. Bei dem Buch handelt es sich um einen Ratgeber für das Arbeitsleben im 21. Jahrhundert mit dem Titel „Berufe für Männer“.
Geschrieben hat es Dr. Frank Grätz, der in den Siebzigerjahren, wie die biografischen Angaben auf dem Umschlag verraten, „Projektleiter für Gehaltsstrukturuntersuchungen bei der Kienbaum-Unternehmensberatung Gummersbach“ war. In seiner Vorbemerkung nennt Grätz den wichtigsten Grund für seine Veröffentlichung: „Weil ich im Jahre 2000 60 Jahre alt bin und nicht erleben möchte, dass dann meine Rente nicht ausgezahlt wird, weil in den Jahrzehnten davor alle Mädchen Friseusen und alle Jungen Pilot gelernt haben.“
Natürlich sind nicht alle in meinem Abi-Jahrgang Flugkapitäne und Friseusen geworden, sondern vor allem Lehrer, Grafikdesigner und Architekten. Einige haben sich inzwischen „arbeitsuchend“ gemeldet, andere machen eine Umschulung zum Altenpfleger, und manche verdingen sich als Kabelträger, Schlafwagenschaffner oder als Telefonisten in einem Call-Center für Xerox in Irland.
Bis auf die Lehrer arbeitet kaum einer, den ich kenne, noch in der Branche, in der er einmal eine Ausbildung begonnen hat. Was also, frage ich mich, soll ich nun – da alle bekannten Möglichkeiten, auf angemessene Weise sein Geld zu verdienen, weggebrochen scheinen – mit meinem Geschichtsstudium anfangen?
Meine Mutter, die ein sehr feines Gespür für die Ratlosigkeit ihrer Kinder hat, spart nicht mit Vorschlägen. Ungeachtet meiner Fähigkeiten oder meiner Ausbildung sagt sie jedes Mal, wenn sie mich anruft: „Willst du nicht doch noch eine Banklehre machen?“ Oder: „Wenn du wie Hans-Jörg damals Bauingenieurwesen studiert hättest, wärst du jetzt nicht arbeitslos.“ Damit spricht sie natürlich einen wunden Punkt an, weshalb ich gleich wieder zu dem Kompendium „Berufe für Männer“ greife, das laut Klappentext „kompakte, präzise und wichtige Informationen und Prognosen“ enthält.
Grätz geht bei seinen Überlegungen davon aus, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts elektronische Prothesen oder das Wachstum neuer Organe und Glieder ebenso zum Alltag gehören werden wie „bewegliche Gehsteige“ und „geräuschfreie Eisenbahnen“. Jemandem, der aus den fortschrittsgläubigen Siebzigerjahren heraus Zukunftsmodelle entwirft, gestehe ich geringfügige Fehler zu. In Gedanken ersetze ich „bewegliche Gehsteige“ durch Laufbänder und „geräuschfreie Eisenbahnen“ durch Transrapid. Als ich aber lese, dass es bald „Autos mit Atomenergie“, „Raketen für geschäftliche und private Transporte“ und „Kunststoff-Städte unter Wasser“ geben werde, die die Perspektiven von Schulabgängern erweitern und völlig neue Arbeitsfelder schaffen, kommen mir erste Zweifel.
Andererseits führt Grätz im Kapitel „Berufe 2000“ auch klassische Tätigkeiten wie die von Augenoptikern, Beamten und Hörgeräteakustikern auf und ist mit der ausführlichen Beschreibung von Genetikern, Programmierern und System-Organisatoren sogar auf der Höhe der Zeit.
Das Problem ist nur, dass ich mich ohne Zusatzqualifikation für solche Stellen nicht bewerben kann. Als mich meine Eltern anrufen und wissen wollen, ob ich schon „etwas in Aussicht“ habe, sage ich ihnen, dass ich drei Berufe in die engere Wahl gezogen habe: Automateneinrichter, Freizeitberater und Ozeanograph.
„Was sind das wieder für Flausen?“, sagt mein Vater zu Recht. „Freizeitberater passt schon“, höre ich meine Mutter aus dem Hintergrund krähen. „Da kann ihm keiner was vormachen.“
Am plausibelsten und lukrativsten scheint mir der Beruf des Ozeanographen zu sein, sage ich, immerhin bedecke das Meer den größten Teil der Erdoberfläche und besitze „die größten Reserven an Rohstoffen und Energiequellen“, so Grätz. „Viele Futurologen“, zitiere ich mit überzeugender Stimme am Telefon, „glauben auch, dass das Meer zu einem wichtigen Wohngebiet wird.“ – „Das ist doch nicht deine Meinung“, sagt mein Vater, „das hast du doch aus dem Buch, das deine Mutter dir geschenkt hat.“ – „Nein“, sage ich, „im Meer liegt unsre Zukunft. Denk doch nur an die Klimaerwärmung.“ „Jetzt hör mir mal zu, mein Junge“, unterbricht mich mein Vater, „diesem Grätz kannst du nichts glauben. Lies mal das Kapitel über Vertreter, dann weißt du Bescheid.“
Nachdem er aufgelegt hat, schlage ich Seite 175 „Reisender/Handelsvertreter“ auf. Grätz schreibt dort, dass man bis zu 15.000 Mark monatlich verdienen und mit jährlichen „Brutto-Provisionseinnahmen von durchschnittlich 75.000 bis 100.000 DM“ rechnen könne. Ich beschließe spontan, Immobilienhändler für Unter-Wasser-Wohnungen zu werden, bis ich etwas weiter unten lese, dass der Beruf Hartnäckigkeit und ein wenig Glück erfordere und Grätz „jahrelang“ (erfolglos?) versucht habe, der „Stadt Leningrad eine Müllverbrennungsanlage im Werte von 45 Millionen DM zu verkaufen“. Trotzdem stimmen mich seine Visionen optimistischer. Schließlich haben wir der Stadt Schanghai vor kurzem den Transrapid aufgeschwatzt. Das gibt ein wenig Hoffnung für die Zukunft. Im nächsten Semester schreibe ich mich jedenfalls für „Ozeanographie und Fischereiwissenschaft“ ein und suche mir einen Nebenjob als Reisender.