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Archiv-Artikel

„Der Krieg führende Westen ist auch ein Erpresser“

Horst-Eberhard Richter hält die Sorgen vor Terroranschlägen für übertrieben. Er sorgt sich vielmehr um die Menschen, bei denen Politiker Bedrohungsneurosen schüren

„Wenn man nur thematisiert, was Polizei und neue Gesetze leisten müssen, um die Terrorgefahr zu verringern, entsteht eine Bedrohungsneurose“

taz: Herr Richter, nach den Terroranschlägen in Madrid ist das Gefühl der Unsicherheit stark gestiegen. Zu Recht?

Horst-Eberhard Richter: Meistens handelt es sich um übertriebene Befürchtungen. Mir bereitet vielmehr Anlass zur Sorge, dass Politik und Medien gerade diese Art von Bedrohungsängsten schüren statt sie abzubauen.

Wodurch? Die Bilder, die gezeigt werden?

Wenn nur thematisiert wird, was Polizei, Geheimdienste oder neue Gesetze leisten müssen, um die terroristische Gefahr zu verringern, entsteht eine Bedrohungsneurose.

Mit der man auch einen Turban in der U-Bahn als verdächtig empfindet?

Es ist durchaus normal, dass unmittelbar nach solch einem schrecklichen terroristischen Verbrechen für ein paar Wochen eine diffuse Unsicherheit vorherrscht. Dabei handelt es sich um eine vorübergehende Beunruhigung. Schlimmer ist der Grund, warum diese Ängste geschürt werden: um vor schlimmeren Gefahren abzulenken. Zum Beispiel von der Gefahr von 65 Atombomben, die in Ramstein immer noch in der Erde lagern. Auch wenn wir es in einer Aktion am kommenden Sonnabend zum Thema machen werden, wird das weitgehend verdrängt.

Die Anschläge in Madrid sind also kein Anlass für Neurosen?

Viel wichtiger ist doch, nach einer gewissen Zeit nach den Anschlägen wieder rational zu agieren und zu überlegen, wie die weltweite Gefahr des Terrorismus verringert werden kann.

Innenpolitische Forderungen nach einem verstärkten Einsatz der Bundeswehr sind der falsche Ansatz?

Natürlich müssen die Menschen in unserem Land den Eindruck haben, dass die Politik dafür sorgt, dass die Möglichkeit für Anschläge dieser furchtbaren Art soweit als möglich ausgeschaltet wird. Zusätzlich muss sie aber Wege finden, die Triebkraft des Terrorismus in der Welt zu verringern. Das Beispiel Israel-Palästina zeigt, wie dies aussehen könnte. Fast drei Jahre lang gab es dort kaum Terrorismus, als die Palästinenser nach den Vereinbarungen von Oslo eine echte Chance auf staatliche Selbstständigkeit und Rückgabe der besetzten Gebiete gesehen haben. Das gab ihnen ein Bewusstsein von Ebenbürtigkeit und befreite sie vorübergehend von Rachebedürfnissen. Nach diesem Modellfall müssen wir uns weltpolitisch richten.

Und auf Interessen von islamistischen Terrorgruppen übertragen?

Die Bedeutung der kulturellen Selbstachtung der islamischen Völker wird vom Westen sehr häufig unterschätzt. Die Ansicht, man müsse die islamischen Völker erst einmal von mittelalterlichem Rückstand befreien, indem man den gesamten Nahen Osten amerikanisiert, dies ist genau das Mittel, um tiefe Kränkung, Rachegefühle und terroristische Initiativen zu fördern.

Wenn umgekehrt Terroranschläge unmittelbare Auswirkungen auf die Politik in westlichen Demokratien haben, wie die Wahlen in Spanien gezeigt haben, stärkt das nicht auf eine fatale Weise ein falsches Selbstbewusstsein von terroristischen Initiativen?

In Spanien hat nicht der Terrorismus gesiegt, sondern die Demokratie dadurch, dass die 90 Prozent, die den Krieg nicht gewollt hatten, jetzt die Friedenspartei wählen konnten. Die Fehlrechnung des Westens war, den Terrorismus durch Krieg auszurotten. Aber auch in der Ohnmacht gibt es heutzutage die Möglichkeit, mit selbstmörderischen Racheanschlägen das mächtigste Land zu erschüttern. Für Europa bedeutet dies die Chance, die aufgekommene Gefahr einer internen Spaltung leichter zu überwinden und sich gemeinsam auf eine überzeugende Friedenspolitik zu verständigen.

Demokratie macht sich also nicht durch Terror erpressbar?

Es entsteht eine wechselseitige Erpressung, wenn sich kriegerische und terroristische Gewalt eigendynamisch verketten. Es kommt dann zu dem Punkt, den der hochgeachtete amerikanische Philosoph Richard Rorty als eine Komplizenschaft beschreibt, wonach der kriegerische Terror am Ende schlimmer sei als der terroristische. Der Krieg führende Westen ist demnach ebenfalls ein großer Erpresser. INTERVIEW SUSANNE LANG