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Archiv-Artikel

Im fremden Haus

Viele jugendliche Flüchtlinge kommen unbegleitet nach Deutschland. Das Hamburger Theaterprojekt Hajusom versucht, deren Vergangenheit aufzuarbeiten und Vertrauen zu vermitteln

von GYDE COLD

„Mitoh fallah ballall“ – Hassan J. kann den Satz „Ich suche meine Zukunft“ nicht übersetzen und sagt stattdessen auf Fula „Ich brauche Hilfe“. In seiner Sprache kennt er das Wort für „Zukunft“ nicht. In Sierra Leone gab es für ihn auch keine. Nur quälende Vergangenheit. Hassan spricht mit dünner Stimme, seine Augen sind dauerhaft vor Schreck geweitet. Sechs Jahre lang war er Kindersoldat. Mit neun wurde er von Rebellen an die Waffen genötigt und ausgebildet, von ihnen gedemütigt, geschlagen, angezündet, unter Druck gesetzt und gezwungen zu töten.

Hassans Vater war ein studierter Mann, der im Diamantenhandel arbeitete. Bis er von Rebellen umgebracht wurde. Sie sahen in ihm einen Feind, weil er mit der Regierung und weißen Geschäftsleuten zusammengearbeitet hatte. Eigentlich Grund genug, auch Hassan zu töten, doch als Kindersoldat nutzte er den Rebellen mehr. In Sierra Leone herrscht seit 1991 Bürgerkrieg.

Minutenlang erzählt Hassan wie aus dem Leben eines Fremden. Sein zarter Körper versteift. „Ich habe ein dunkles Herz“, sagt er. Manchmal gelingt es ihm, nicht an die Vergangenheit zu denken. Vor allem, wenn er zu den Theaterproben von Hajusom geht. „Dann habe ich Spaß, ganz schönen Spaß“, dehnt er die Worte und lächelt.

Hajusom macht in Hamburg politisches Theater mit minderjährigen Flüchtlingen – für ihre Integration und gegen ihr Trauma. Seit 1998 bereiten die künstlerischen Leiterinnen Dorothea Reinicke, Ella Huck und Claude Jansen Kindern und Jugendlichen, die unbegleitet nach Deutschland flohen, eine Bühne für ihr Leben. Sechs Inszenierungen, die aus ihren Erzählungen wuchsen, entstanden auf diese Weise.

Die anderen zehn Schauspieler haben Ähnliches erlebt wie Hassan. Sie sind zwischen vierzehn und siebzehn Jahre alt und kommen aus Bürgerkriegsländern Westafrikas, aus Afghanistan und dem Iran. Sie sind vor Krieg und Diktatur, Folter, Verfolgung und Hunger geflohen. Sie leiden unter den Schrecken des Krieges, dem Verlust von Familienmitgliedern und der Trennung von ihrer Heimat.

Auf mühsamen Wegen in Deutschland angekommen, werden sie in Erstversorgungseinrichtungen und anschließend in Jugendwohnungen materiell, rechtlich und medizinisch versorgt. Sie gehen zur Schule, haben Freunde, aber keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie. Nachdem sie einen Asylantrag gestellt haben, müssen sie jahrelang auf dessen Bearbeitung warten. Und leben mit der Drohung der Abschiebung. Um die seelische Verfassung der Flüchtlinge kümmern sich nur vereinzelt Betreuer. Über die reine Existenzsicherung hinaus gibt es für junge Flüchtlinge kaum Hilfe.

In Hamburg gibt es zwei Ausnahmen: Zum einen bietet ihnen das Theater Hajusom die Möglichkeit, mit ihrer Geschichte und Identität kreativ umzugehen. Und das mit großem persönlichem Gewinn für die Schauspieler und Erfolg beim Publikum. Zum anderen können sie in der seit 1998 existierenden „Spezialambulanz für Flüchtlingskinder und ihre Familien“ eine Therapie in Anspruch nehmen. Zwar angesiedelt in der Universitätsklinik Eppendorf (UKE), aber finanziert durch die Steffi-Graf-Stiftung „Children for Tomorrow“, behandelt die psychologische Ambulanz junge Flüchtlinge unentgeltlich – unabhängig von ihrem versicherungs- und aufenthaltsrechtlichen Status. Manche Klienten kommen nur einmal. Andere, wie Hassan, über Jahre hinweg wöchentlich.

Hajusom kooperiert dank der Vermittlung des Vereins Kunstwerk e. V. seit zwei Jahren mit der Ambulanz und erhielt von „Children for Tomorrow“ eine Förderung als Modellprojekt. Hubertus Adam, leitender Arzt der Ambulanz wie auch der Stiftung, sieht das Theater als wunderbare Ergänzung. „Für manche unserer Klienten ist es zu dicht, eine Gesprächstherapie zu machen, für sie ist Hajusom besser. Oder dort wird etwas aufgebrochen, was wir anschließend im therapeutischen Gespräch aufgreifen.“

Hassan ist die Therapie im Moment zu viel. Er kann die Wucht der Erinnerungen nicht ertragen. Oft hat er Alpträume: „Dann sehe ich alles voller Blut.“ Lieber geht er zur Theatergruppe. Da trifft er Gleichaltrige, die wie er darum kämpfen, ihren Depressionen und Ängsten etwas Positives entgegenzusetzen. Wenn sie sich sehen, sind alle bester Stimmung und blühen auf. Sie albern herum, die Mädchen mit den Jungen, die afrikanischen mit den afghanischen und iranischen. Machen Witze, hauen sich übermütig auf die Schulter oder streicheln sich über den Kopf. Diskutieren engagiert und lebhaft über das Zuspätkommen und die Disziplin beim Theaterspielen oder über Liebe vor der Hochzeit. Hören einander aufmerksam zu, sodass sich jeder zu sagen traut, was ihm auf der Leber liegt.

Zum Aufwärmen tanzt Hassan mit den anderen nach dröhnend lauter Musik. Haben sie sich ausgetobt, proben sie hoch konzentriert. Szene um Szene entsteht das neue Stück „Die Kinder der Regenmacher“. Weil die Schauspieler diesmal wünschten, nicht nur ihre eigene Lebensgeschichte auf die Bühne zu bringen, wählten die Theatermacherinnen eine Textvorlage. Angereichert durch biografische Fragmente, dient der Roman „Die Kinder der Regenmacher“ von Aniceti Kitereza aus Tansania als Rahmenhandlung.

Die achtköpfige afrikanische Fraktion spielt Auszüge aus der historischen Familiensaga. Auf einer zweiten Spielebene übernehmen die fünf jungen Afghanen die Rolle eines Fernsehteams, das Regieanweisungen gibt und das afrikanische Leben filmt. In den gespielten Drehpausen begegnen sich beide Gruppen und diskutieren, etwa über die Frage „Wie viele Frauen darfst du heiraten?“, was unter den überwiegend muslimisch geprägten Jugendlichen zu turbulenten Disputen führt. Im Wechsel von szenischer Handlung, gelesenem Text, Tanz und Musik jongliert das Stück mit den Klischeevorstellungen von Afrika.

„Wir helfen ihnen, sich an gute Momente zu erinnern, indem wir nach dem Alltag in ihrer Heimat fragen“, beschreibt die künstlerische Leiterin Dorothea Reinicke ihre Arbeitsweise. „Sie sollen sich nicht nur als Flüchtlinge fühlen, sondern auch ihre kulturellen Wurzeln lebendig halten.“ In der Vorbereitung einer Heiratsszene erzählen die Schauspieler, wie bei ihnen zu Hause Hochzeit gefeiert wurde. Aus den lebhaften Schilderungen, den vorgeführten Tänzen und Ritualen entwickeln die Theatermacherinnen die Dramaturgie der vielschichtigen Inszenierung.

Wie beiläufig erlernen die Jugendlichen dabei interkulturelle Fähigkeiten und sind zusätzlich gefordert, in der Konfrontation zwischen der afrikanischen und afghanisch-iranischen Herkunft Position zu beziehen. Auch das stärkt ihr Selbstbewusstsein. „Wir unterstützen, dass sie sich ihrer kulturellen Hybridität bewusst sind“, erklärt Reinicke. „Bei uns lernen sie viel über kulturelle Differenzen und gegenseitigen Respekt.“

Innerhalb des geschützten Rahmens der Gruppe erinnern sich die Jugendlichen an Verdrängtes und Vergessenes. Oft kommen Schrecken nebenbei zutage, die gar nicht angesprochen wurden. „Wir bohren nicht nach. Wir fragen lediglich, und sie lassen ihre Ängste und Scheu fallen“, sagt Dorothea Reinicke. Hassan etwa erzählte, wie sein Vater von Rebellen getötet wurde. Ob seine Mutter und die kleine Schwester noch am Leben sind, weiß er nicht. Während der Flucht aus ihrem Dorf verlor er sie und konnte sie auch nach tagelanger Suche nicht wieder finden.

Inzwischen beschloss Hassan, dass sein Zuhause jetzt die Menschen von Hajusom sind: „Das ist meine neue Familie.“ In dieser Aussage sieht der Psychologe Adam einen hohen therapeutischen Effekt: „Gerade bei Kindern, die viel Gewalt erlebt haben, ist das Vertrauen in sich selbst und in andere Menschen zerstört.“ Entscheidend sei daher, dass die Jugendlichen Beziehungen aufbauen – zu den künstlerischen Leiterinnen und den Mitspielern. „Das macht sie stark und gibt ihnen Kraft, auch ihre Belastungen in Worte zu fassen.“

Als Joana M.* vor zweieinhalb Jahren bei Hajusom anfing, war sie erst drei Tage vorher aus Angola gekommen. Das westafrikanische Land leidet noch heute an den Folgen des von 1975 bis 1994 dauernden und immer wieder aufflammenden Bürgerkriegs. Joana verstand kein Wort Deutsch und blieb lange Zeit nur stille Zuschauerin. Ein anderes Mädchen sprach wie sie portugiesisch und übersetzte. „Sie hatte einen sehr verzweifelten Ausdruck, wirkte isoliert und vollkommen verschüchtert“, erinnert sich Dorothea Reinicke.

Joana sagt, sie habe sich bei Hajusom sofort zu Hause gefühlt und nicht, wie sie es sonst in Deutschland erlebe, „so einsam und wie in ein fremdes Haus eingedrungen“. Während der ersten Jahre in Deutschland war Joana verstört. Alpträume rissen sie aus dem Schlaf, immer wieder, jeden Abend. „Es war, als ob die Welt über mir zerbrochen wäre“, sagt sie. Die Betreuerinnen ihrer Jugendwohnung vermittelten sie an die psychologische Spezialambulanz.

Im Laufe der Zeit hat Joana verkraftet, dass sie ohne Vorankündigung bei einem Mann abgeliefert wurde, den sie nicht kannte. „Das fühlte sich schlecht an“, sagt sie. Wie eine Ware sei sie sich vorgekommen. Dieser fremde Landsmann nahm sie im Flugzeug mit nach Deutschland. Er sprach nicht mit ihr und war unfreundlich. Nach der Ankunft in Hamburg stieg ihre Skepsis noch. „Es war ein Reflex, ein Gefühl in mir, das mir sagte, dass das nicht gut ist – und dann bin ich von ihm abgehauen. Und Gott sei Dank gab es hier Menschen, die mir geholfen haben.“

Schnell lernte sie sehr gut Deutsch, sie ist ehrgeizig in der Schule. Inzwischen reflektiert sie ihre Empfindungen reif wie eine Erwachsene. Während sie sich anfangs nicht vorstellen konnte, jemals auf einer Bühne zu stehen, übernimmt sie heute in „Die Kinder der Regenmacher“ eine Hauptrolle. Joana spielt die Ehefrau des Clanoberhaupts, die unglücklich ist, weil sie eine zweite Frau neben sich akzeptieren muss. Hassan ist der Assistent eines Heilers, den Joana um Hilfe bittet. Sie besucht ihn in seinem Dorf und fragt, wie sie die Liebe ihres Mannes wiedererlangen könne. Hassan bespricht sich mit den Geistern und schickt ein Zauberhuhn in die Familie. Das gackernde Tier sorgt dafür, dass beide Frauen gleich viel Liebe bekommen.

Hassan spricht die Geisterbeschwörung in seinem Dialekt Fula – mit lauter, kräftiger Stimme. Für Momente scheint es, als könne er auch seine traumatische Geschichte wegzaubern und tauche in eine unbelastete afrikanische Identität ein. Während der Besprechungen zur nächsten Szene flicht Joana Hassans dünnes Haar zu eng am Kopf anliegenden Zöpfchen. Entspannt legt er den Kopf auf die Seite und schließt die Augen.

Mit der fünften Produktion „Sieben Leben“ gewann Hajusom 2001 den Bundespreis des Deutschen Theatertreffens der Jugend in Berlin. In dokumentarischer Form zeigten die Schauspieler Szenen aus ihrem Leben in Afrika und Afghanistan. Sie beschrieben ihre Empfindungen auf der Flucht und bei ihrer Ankunft in der fremden westlichen Welt. Die Erfahrung umjubelter Aufführungen ist für die Schauspieler eine wertvolle Hilfe. Indem sie einem Publikum ihre Geschichte offenbaren und Anteilnahme erhalten, fühlen sie sich aufgenommen. Diese Anerkennung allerdings steht im Gegensatz zur offiziellen Politik, die auch minderjährige Flüchtlinge als Asylbewerber jahrelang über ihre Zukunft im Unklaren lässt – und sie dann meist abschiebt.

Im Lauf der vergangenen vier Jahre haben die künstlerischen Leiterinnen mit knapp hundert Jugendlichen gearbeitet. Von ihnen erhielt lediglich ein Junge aus Togo Asyl, und ein Kindersoldat aus Sierra Leone hatte das Glück, Adoptiveltern zu finden. Von zwanzig Jugendlichen haben die Theatermacherinnen nie mehr etwas gehört. „Insgesamt acht riefen uns aus dem Ausland an und sagten: Wir sind gut gelandet“, ergänzt Dorothea Reinicke.

Nach Schätzungen von Flüchtlingsorganisationen leben zwischen sechstausend und zehntausend minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Deutschland. Da viele nicht registriert sind, gibt es keine Statistik. Von ihnen werden allein in Hamburg zwischen 1.500 und dreitausend vermutet, die in der Illegalität um ihr Überleben kämpfen. Wie man in Deutschland als Flüchtling auch legal leben kann, brachte Hajusom in seiner Show „Traumhochzeit E 44“ satirisch auf die Bühne. Die Lösung: die Heirat mit einem Menschen, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Bislang blieb dieser Ausweg für die Schauspieler von Hajusom nur Fiktion.

Der Name Hajusom erinnert übrigens an drei Schauspieler der ersten Stunde, die schon lange nicht mehr dabei sind: Hatice aus Kurdistan, Jusef aus Afghanistan und Omid aus dem Iran wurden nach kurzer Zeit abgeschoben oder gingen weiter auf die Flucht in ein anderes Land, auf der Suche nach einer genehmigten Heimat.

* Name von der Redaktion geändert

Hajusom zeigt „Die Kinder der Regenmacher“ am 22. Mai im Ballhofzwei in Hannover auf dem Festival „Jugendwelten – Theaterformen“ sowie am 18. und 19. September im KUZ MainzGYDE COLD, 38, ist Kunsthistorikerin und Journalistin in Hamburg