: „Hätte al-Qaida den Eiffelturm zerstört, wäre Frankreich im Irak“, sagt Michael Ignatieff
Vor einem Jahr begann der Krieg gegen den Irak. Die Gründe der USA waren falsch – doch der Effekt kann positiv sein
taz: Herr Ignatieff, Sie haben den Irakkrieg unterstützt. ABC-Waffen wurden nicht gefunden – und die Welt ist auch nicht sicherer geworden. Glauben Sie immer noch, dass die Invasion klug war?
Michael Ignatieff: Ich wusste damals, dass Saddam Giftgas gegen seine eigene Bevölkerung eingesetzt und zwei Nachbarstaaten angegriffen hatte. Es gab keinen Zweifel an seiner Böswilligkeit. Die Frage war nur, über welche Kapazitäten er noch verfügte. Da Entscheidungen immer Unsicherheit einschließen, würde ich wahrscheinlich wieder so entscheiden.
Sie unterstützen also den Präventivkrieg – obwohl der Irak niemand bedrohte?
Es sind enorme Fehler gemacht worden. Erstens von den Geheimdiensten. Zweitens haben beide Demokratien, die in den Krieg gezogen sind, ihren Bürgern nicht die Wahrheit gesagt. Ihnen wurde erzählt, dies sei ein präventiver Krieg gegen eine unmittelbare Bedrohung.
Damit ist die Erstschlagdoktrin erledigt – oder?
Das ist ja keine Doktrin. Präventivkriege werden Einzelfälle bleiben. Sie sind extrem unpopulär, denn die Bedrohung ist spekulativ. Aber hätten wir vor dem 11. 9. glaubwürdige Hinweise auf einen Anschlag gehabt, hätten wir militärische Gewalt genutzt, um sie zu verhindern. Eine der Illusionen der Europäer ist, nur die Amerikaner würden präventiv handeln. Wäre am 11. 9. der Eiffelturm zerstört worden – die Franzosen wären die größten Befürworter von Präventivschlägen.
Trotzdem: Die USA sind isoliert. Der Irakkrieg hat dem Kampf gegen den internationalen Terror eher geschadet.
Nein. Es ist für mich nicht ersichtlich, dass die Auswirkungen auf den Antiterrorkampf negativ sind. Es gibt eine bessere Kooperation im Iran, was dessen Atomprogramm anbetrifft. Libyen rüstet ab. Im Irak ebenso wie in Afghanistan haben die USA ihre Bereitschaft zu kämpfen bewiesen – Terroristen sind von Entschlossenheit mehr beeindruckt als von guten Worten. Also, der Krieg hat die Dinge nicht verschlechtert, aber auch nicht massiv verbessert. Doch wenn der Irak in einen Bürgerkrieg abdriftet, wenn die USA dort keine Demokratie aufbauen, dann wäre der Krieg wirklich ein Fehler gewesen. Aber für dieses Urteil ist es noch zu früh.
Aber das Argument bleibt: Die Gründe für den Irakkrieg waren fadenscheinig.
Die Europäer haben den Begründungen der US-Regierung völlig zu Recht misstraut. Sie sollen auch skeptisch sein, wenn die Amerikaner das nächste Mal im UN-Sicherheitsrat behaupten, dass ein Regime eine Bedrohung sei. Doch wir alle müssen aufwachen. Manchmal gibt es einen Grund, präventive militärische Gewalt anzuwenden. Wenn jemand vor dem 11. 9. gesagt hätte, dass Terroristen 3.000 Menschen in New York töten werden, hätte jeder nur mit dem Kopf geschüttelt. Die Europäer leben weiterhin in einer „Prä-9/11-Welt“ und die Amerikaner in einer „Post-9/11-Welt“. Das ist der Dissens.
Können Sie den Antiterrorkampf trotzdem gemeinsam führen?
Die Zusammenarbeit auf vielen Feldern funktioniert gut. Die USA müssen jedoch kompromissbereiter sein, zum Beispiel Beweise für Gerichtsprozesse übergeben. Auch Guantánamo vergiftet die Beziehungen. Die US-Regierung muss verstehen, dass man den Krieg gegen den Terror entweder multilateral oder gar nicht führt.
Geht das ohne Regierungswechsel in Washington?
Ein Wechsel würde helfen. John Kerry ist von seinem Instinkt her ein Multilateralist, Bush ein Unilateralist. Doch das Problem sitzt tiefer. Der Dissens zwischen Europäern und Amerikanern über den Irak begann unter Clinton. Die europäische Politik muss daher zwei Dinge vermeiden: Schadenfreude und Ressentiments. Beide müssen aus dem Lexikon der Politik verschwinden …
… schwierig, wenn sie von der Gegenseite immer wieder genährt werden.
Ja, aber reife Politik widersteht den Versuchungen, die von der Dummheit der anderen verursacht werden.
Glauben Sie nach wie vor an die Domino-Theorie – dass die Demokratisierung des Iraks auf den Nahen Osten ausstrahlt?
Iran sieht sich nicht länger einem aggressiven Tyrannen von außen gegenüber, der Druck auf interne Reformen wächst. Das gleiche gilt für Saudi-Arabien. Syrien hat kein Baath-Partei-Regime mehr vor der Haustür. Auch das kann Veränderungen beflügeln. Insofern kann der Sturz Husseins Effekte haben.
Um den Irak zu stabilisieren, müssen US-Truppen lange dort bleiben und können ein Auslöser für Widerstand sein. Ist dieser Kreislauf zu durchbrechen?
Wenn es erst mal eine interne Entwicklung zur Selbstverwaltung gibt, wird es für die Terroristen viel schwieriger, gegen die Besatzung zu kämpfen. Eine legitime irakische Regierung wird weniger angegriffen werden. Doch wie sich diese entwickelt, hängt von Faktoren ab, die wir nicht vorhersehen können, vor allem von der Weisheit der irakischen Führung. Die kluge, moderate Haltung von Ajatollah Sistani gibt Anlass zur Hoffnung, ebenso die ermutigenden Führungsqualitäten bei Kurden und Schiiten. Das Problem bleiben die Sunniten.
Sie sind aber optimistisch …
Mir fällt es schwer, nicht berührt zu sein von den Menschen, die ihre religiöse Freiheit leben, die sich in Stadträte wählen lassen, die in einer Demokratie leben wollen. Ich setze auf jene, denen Freiheit so lange verweigert wurde. Wenn wir ihnen ausreichend helfen und alles weitere ihnen überlassen, werden sie ihren selbst bestimmten Weg gehen. Wenn, ja, wenn der Kampf im Irak gewonnen ist, werden wir auf diese schweren Jahre zurückschauen als eine historische Zeitenwende in Nahost.
INTERVIEW: MICHAEL STRECK