: Welt im Vakuum
Cannes Cannes (V): Übergänge beherrschen die Festivalfilme. Besonders eindringlich wirkt die neue Zeit in Yu Luik Wais „All Tomorrow’s Parties“
von CRISTINA NORD
Ein Jahr der Übergänge stehe bevor, sagte Thierry Frémaux, als er Ende April das Programm präsentierte. Damals wusste man nicht recht, was man sich darunter vorstellen sollte. Nachdem das erste Drittel des Festivals verstrichen ist, nimmt Frémaux’ Ankündigung Konturen an. Als Motiv und Struktur beherrscht der Übergang viele Filme, oft geht es um die Zeit des Transits von der alten Ordnung hin zu einer neuen, die jedoch erst am Ende aufscheint. Wenn sie es denn überhaupt tut: Bisweilen wird diese Bewegung mit dem Stillstand deckungsgleich. Samira Makhmalbafs „Panj é asr“ funktioniert nach diesem Prinzip, auch in André Téchinés „Les Égarés“ ist es dominant.
Téchinés Film setzt ein, nachdem die deutschen Truppen Paris erobert haben. Eine Mutter, ihre zwei Kinder und ein junger Fremder geraten auf ihrer Flucht gen Süden in einen merkwürdig entrückten Zwischenraum. Eine Villa im Wald bietet ihnen Zuflucht und wirkt zugleich wie ein Katalysator bevorstehenden Unheils. Téchiné inszeniert das Drama angenehm verhalten. Doch recht überzeugen kann „Les Égarés“ nicht. Téchiné nutzt den historischen Hintergrund zu illustrativen Zwecken, als Gegenpart zu Wiesen, Bächen und milden Brisen. Was den Krieg betrifft, so hat der Regisseur kaum Einfälle: Wenn historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen verlangsamt ablaufen, kündet das vor allem von der Hilflosigkeit, die man aus TV-Sendungen kennt. Téchiné interessiert sich eben doch mehr für seine schöne Protagonistin Odile (Emmanuelle Béart) und ihren jugendlichen Gegenspieler respektive Liebhaber (Gaspard Ulliel) als für den Krieg.
Ganz anders der Wettbewerbsbeitrag von Nuri Bilge Ceylan. „Uzak“ („Weit weg“) ist vor dem Hintergrund der türkischen Wirtschaftskrise angesiedelt. Ein junger Mann, Yusuf (Mehmet Emin Toprak), kommt vom Land nach Istanbul, um Arbeit zu finden. Er wohnt bei seinem Cousin Mahmut, einem Fotografen (Muzaffer Özdemir). Der hat es zu etwas gebracht in der Stadt, und dementsprechend blickt er auf seinen Verwandten herab wie auf ein Stück seiner eigenen Vergangenheit, das es mit Macht abzustoßen gilt. Yusuf versucht sein Glück am Hafen, die Stadt liegt brach im Schneetreiben, das Wrack eines Frachters ragt aus dem Hafenbecken. Der junge Mann wird keine Arbeit finden, das weiß man, wenn sein Blick an dem Wrack entlang wandert, und er weiß es auch.
„Uzak“ ist ein ruhiger Film, lange, stille Einstellungen sind durch harte Schnitte klar voneinander abgegrenzt. Nuri Bilge Ceylan sucht sich seine Geschichten im Kleinen, in der Maus etwa, die sich in der Küche des Apartments eingenistet hat, oder in der Art, wie Mahmut die Schuhe seines Cousins beiseite räumt. Einmal schauen die beiden fern, Mahmut bestimmt das Programm: Es läuft Tarkowskijs „Stalker“. Weniger, weil der Fotograf einmal davon träumte, Filme wie Tarkowskij zu drehen, sondern eher, weil er die Unzugänglichkeit des Films gegen Yusuf einsetzen kann. Sobald der zu Bett gegangen ist, legt Mahmut ein Pornovideo ein.
Ein weiterer schöner Übergangsfilm kommt aus Portugal. João César Monteiros „Vai e vem“ („Er kommt und geht“) erzählt – verspielt und reich an bourgeoisen V-Effekten – von der Frivolität des Todes. Der Protagonist, ein alter, magerer Mann, von Monteiro selbst gespielt, sucht die Gesellschaft junger Frauen. Er singt spanische Operetten und italienische Partisanenlieder, fährt mit dem Bus durch Lissabon und deklamiert, was an Fabeln und erotischen Geschichten ihm durch den Kopf geht. „Vai e vem“ ist der letzte Film des Regisseurs. João César Monteiro starb Anfang Februar, einen Tag nach seinem 64. Geburtstag.
Der schönste Übergangsfilm, um nicht zu sagen: der schönste Film des bisherigen Festivals, kommt aus China. Yu Luik Wais „All Tomorrow’s Parties“ spielt in der Zukunft. Die Macht des einen Regimes löst sich auf, die Macht des anderen ist konfus – nicht zufällig heißt „Party“ Fest und Partei in einem. In diesem Vakuum suchen sich die Protagonisten, was sie zum Überleben brauchen. Die Landschaften der Zukunft inszeniert „All Tomorrow’s Parties“ in den Industrieruinen und -brachen der Gegenwart. Was die hochauflösende Digitalkamera Lai Yiu Fais mit der Architektur der Stahlwerke und Minen anstellt, ist außergewöhnlich: Derart gut komponierte, in die Tiefe des Bildes führende Digitalaufnahmen habe ich noch nicht gesehen. Wenn alle digital gedrehten Filme solche Sorgfalt auf ihre Bilder verwendeten, man müsste den Übergang vom herkömmlichen zum digitalen Kino nicht fürchten.