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Archiv-Artikel

Die Stille nach dem Anschluss

Das Unglück ist vorhersehbar: Beim 40. Berliner Theatertreffen gab es zu viel Konsens über aktuelle politische Konflikte. Auch das Oberflächendesign des Poptheaters hat sich verbraucht. Ein Rückblick

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Das wäre ein Foto wert gewesen: der ganze S-Bahn-Waggon, Bank für Bank, besetzt mit jungen Theatergängern, die Nasen tief im Programmheft der „Orestie“. Wie war das noch mal mit den Erinnyen und dem Recht auf Rache? Welche Verbrechen muss man erinnern, und welche darf man vergessen zum Wohle der Eintracht? Sie diskutieren den Schluss der Tragödie von Aischylos und wo man jetzt nach sechs Stunden Katharsis noch etwas essen kann. In solchen Momenten lächelt der Gott des Theaters ganz sicher glücklich.

„Wie ein griechischer Presslufthammer bohrt sich das hier rein, der hohe Ton, die Tragödie, das kommt jetzt gleich.“ So kündigte die Schauspielerin der Kassandra (Ulrike Krumbiegel) ihre Rolle an. Die Rolle „eines Losers“, kommentiert sie empört, denn immer wird sie gestraft für ihre Klugheit dort, wo andere sich Illusionen hingeben. In der Münchner Inszenierung der „Orestie“ von Andreas Kriegenburg, mit der das 40. Theatertreffen in Berlin zu Ende ging, stellt sich Kassandra vor, wie sie vor dieser Rolle flieht, sich einwühlt in die Erde, durchgräbt bis in andere Länder; aber wo sie auch hinkommt, überall spielen sie die „Orestie“. Das ist nicht nur ein feuriges und wunderbar komisches Solo von Ulrike Krumbiegel, sondern zugleich ein Exkurs über Theatergeschichte und die fast schon verzweifelte Suche nach politischer Relevanz. Haben wir nicht mehr als einen 2.500 Jahre alten Text, um den Zustand des Krieges nicht als Ausnahme, sondern als Normalität zu beschreiben?

Es scheint so. Aber Kriegenburg wollte ganz sicher gehen und hat clowneske Nummern eingebaut, in denen George W. Bush, Rumsfeld und Angela Merkel pornografisch kalauern. Die werden zwar seit der Premiere im November 2002 öfters aktualisiert, aber besser werden sie nicht. An ihnen hat sich ein großer Teil der Kritik festgemacht und die Ambition, mit dem antiken Stoff als Material aktuell Position zu beziehen, als misslungen verurteilt. Umso überraschender war die Einladung zum Theatertreffen.

Die Trilogie der „Orestie“ erzählt vom Krieg und mehr noch von einer Suche nach der Grundlage des Rechts jenseits des Prinzips der Blutrache. Die Götter verhandeln die Ablösung der alten durch eine neue Ordnung diskursiv, Klytämnestra und ihre Kinder müssen sie erleiden. Mit der Autorität der Götter treibt Kriegenburg ein karnevaleskes Spiel, lässt sie kalauern, tuntig kokettieren, obszöne Witze reißen und sich in aalglattem Zynismus eitel wiegen. Sie verpulvern ein großes rhetorisches Arsenal, um ihren Arsch zu retten. Arm dagegen und Mitleid erregend ist das Repertoire des Chores, der dem Volk der Besiegten oder den beleidigten Erinnyen seinen Körper leiht. Er watet durch das Wasser, das stündlich höher und höher steigt, und rahmt die Familienszenen tanztheatralisch. In diesem Spektrum der choreografischen und sprachlichen Mittel erreicht Kriegenburg eine Vielschichtigkeit, die den Mythos in jeder einzelnen Rolle auf seine Tragfähigkeit hin befragt. Gerade das macht seine Inszenierung gegenwärtig und nicht der zwischengeklitterte Politklamauk.

Den Bogen zwischen dem Mythos der Orestie und dem ideologischen Fundament der USA schlug auch ein zweites Stück, „Trauer muss Elektra tragen“ von Eugene O’Neill, das Frank Castorf am Schauspielhaus Zürich inszeniert hatte. Die Frage nach den Leichen im Keller und der Funktion des Verdrängten beantwortet Castorf mit Vodoo- und Santeria-Kulten: In ihnen bricht sich Bahn, wovon die Ordnung an der Oberfläche der demokratischen Staaten nichts wissen will. Das Archaische ist hier zugleich besessen, anarchistisch und selbstzerstörerisch. Der Kosmos der „Elektra“ ist verwirrender, hermetischer, hysterischer und verlangt mehr vom Publikum als der Ansatz von Kriegenburg, der sich zum Schluss der Trilogie der aufklärenden Rhetorik des Aischylos ergibt.

Zum 40. Theatertreffen ist im Programm eine Liste aller bislang eingeladenen Inszenierungen abgedruckt. Zahlenmäßig angeführt von Peter Zadek, Peter Stein, Claus Peymann und Luc Bondy, alle schon in den Siebzigerjahren dabei, dicht gefolgt von Frank Castorf, Christoph Marthaler und Andrea Breth. Die Zeiten aber, in denen die ästhetischen Grenzen zwischen der ersten und der zweiten Gruppe für große Aufregung sorgten, sind vorbei. In diesem Jahr repräsentierten Castorfs Zauberei und Marthalers Entschleunigungen die Tradition, die von keinem der jüngeren Regisseure angegriffen wird. So sehr sie sich auch ästhetisch voneinander unterscheiden, polarisieren als konträre Konzepte über Anspruch und Wirksamkeit des Theaters lassen sie sich nicht. Viel beachtet von der Kritik waren sie allemal, und so wurde die Auswahl der Jury nur mit wenig Murren durchgewunken.

Schön, so ein Konsens? Nun ist das Theatertreffen – fest gebucht von Kulturfunktionären, dem Westberliner Bildungsbürgertum (noch immer), dazu Journalisten aus der Hauptstadt und aus der Provinz – eine Veranstaltung, die bei Konsens erstarrt. Man kommt nicht her, um zuzustimmen, sondern um in der Abgrenzung die eigene Position zu profilieren. Weil es nun aber inhaltlich wenig Konfliktstoff gab, fiel das Echo etwas mäkelig aus: „Transportschäden“ wurden beklagt, mangelnde technische Umsetzung, schlechte Partys.

So lässt sich, um ein Resümee zu ziehen, weniger ein Trend ausmachen, als eher in vergleichenden Studien der Feinschliff beobachten. „Die Liebelei“ von Michael Thalheimer, „Richard III.“ von Stefan Pucher und „zeit zu lieben. zeit zu sterben“ von Armin Petras bieten sich an. Alle drei Regisseure, einmal als Protagonisten des Poptheaters gehandelt, handhaben das Spiel zwischen Realität und Projektionen sehr unterschiedlich.

Thalheimer ist der Regisseur, mit dem das Wort „Oberflächendesign“ eine neue Qualität erreichte: je mehr Glätte an der Oberfläche, desto breiter die Felder der Anschlussfähigkeit. Die Stilisierung, mit der er seine Figuren im Raum festzurrt wie Käfer unter dem Mikroskop, hat etwas Erbarmungsloses. In seiner „Liebelei“ von Schnitzler (Thalia Theater Hamburg) brechen die Redeströme frontal aus den Mündern von zwei jungen Paaren und schießen auf uns zu wie ein Bündel paralleler Speere. Doch nur mit großer Zeitverzögerung reagieren sie aufeinander, als ob die Botschaft einmal rund um den Erdball hätte kreisen müssen und dabei öfters verloren gegangen wäre. Die Körper wissen derweil nicht, wohin mit sich, verformen sich langsam und skurril, durchqueren die Karikatur und den Schmerz und verfehlen den Augenblick der Handlung ebenso wie die Sprache. Die kurze Geschichte von Liebe, Duell und dem Gefühl des Verrats, das größer ist als die Trauer, braucht so keine Übersetzung des fremden soziologischen Kontexts. Denn wie die Gefühle beim Transport durch die Sprache dauernd zu Bruch gehen und sich als Splitter in die Herzen derjenigen bohren, die durch Nicht-Sagen eigentlich geschont werden sollten, das versteht man auch so.

Seit Shakespeare „Richard III.“ erfand, ist diese Figur unschlagbar in Intriganz und Korruption, der Realität immer um die Durchschaubarkeit des Spiels voraus. Auch ihn hat Stefan Pucher am Schauspiel Zürich als ein Spektakel inszeniert, das in schon vorhandene Bilder wieder eintritt. In dem Bühnenbild von Barbara Ehnes sind die Spielflächen wie schmale Horizonte hintereinander gestaffelt. Die Bilder haben fast keine Tiefe. Die Figuren stecken fest, lange sogar sind sie eingeschlossen in Nischen und sargähnliche Kojen in einer barocken Wand. Dieser fehlende Raum ist es, der sie agieren lässt wie aufgezogen, ohne je einen Zweifel an ihrer Boshaftigkeit und Motivation zu lassen. Das ist das Bitterste an Puchers Inszenierung: Mit dem Schwinden des Subjekts und seiner Ersetzung durch die Summe der Projektionen schwindet auch jeder Widerstand.

Pucher und Thalheimer setzen beide das Design über das Sein – und haben nicht Unrecht. Fatale Strategien von Anfang an, im Privatesten der Liebe ebenso wie in der Politik. Wer da noch auf Freiheit hofft, geht die Gefahr ein, zynisch als Romantiker abgebürstet zu werden. Gewagt hat das nur Armin Petras in „zeit zu lieben. zeit zu sterben“, dem unverbrauchtesten Stück des Theatertreffens. Wieder wird von früher Liebe erzählt, von der Unfähigkeit zu verführen und sich verführen zu lassen, von langen Strecken pubertärer Scham und Eifersucht, aber auch vom Kampf um einen Studienplatz und dem Angenagtwerden von den Abgängen Richtung Westen. Aber Petras setzt Körper und Sprache einem konfusen Raum aus, ihren Platz müssen die Figuren sich ständig suchen, den Ort erst definieren – seine Figuren kämpfen noch um ihren Subjektstatus. Die Szenen sind oft mehrfach gebrochen, erzählt als Anekdote oder lustige Soap, verzerrt in die Groteske, ausufernd im Slapstick, von außen als Filmbilder beschrieben; und doch bricht sich durch diese Vielzahl der Ausweichmanöver letzten Endes immer sehr nachvollziehbar ein Gefühl Bahn. Der ganze theatralische Aufwand, das hyperaktive Andocken an ein großes Repertoire von Genrezitaten scheint ein Hilfsangebot des Regisseurs an seine Figuren – damit sie, wenn es auf geradem Weg nicht geht, eben in Schlaufen und Rückwärtssprüngen endlich mal zu Potte kommen.

„zeit zu lieben. zeit zu sterben“ bleibt immer im Nahbereich. Großer Weltentwurf will es nie sein. In seiner emphatischen Stärke ist es dieser Utopie voraus. Das muss wohl vorläufig reichen. Für weiter reichende Entwürfe auf der Bühne sieht es zurzeit schlecht aus.