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Archiv-Artikel

Ein Geburtsort des Showbusiness

Anfang August werden in Athen die 28. Olympischen Sommerspiele der Neuzeit eröffnet. Die Fackel, die davon kündet, wird Donnerstag in Olympia entzündet. Die griechischen Organisatoren tun so, als käme der Sport nun zu seinen Idealen zurück. Historiker wissen es besser: Olympische Spieler waren der Anfang allen Professionalismus im Sport

VON NIELS KADRITZKE

Viele Archäologen packt das kalte Grausen. Die deutschen Kollegen, die das riesige Areal betreuen, bewahren Fassung. Einen Touristenauftrieb dieser Art erleben sie zur Hochsaison täglich. Und was die ästhetische Seite betrifft, so müssen sie Schlimmeres erdulden. Alle zwei Jahre – stets viele Monate vor den Olympischen Spielen – wird vor dem Heratempel die Olympische Flamme entzündet: mal für die des Sommers, mal für jene des Winters.

Am 25. März ist es wieder so weit. Die Zeremonie zählt zu keiner antiken Tradition, vielmehr ist sie nichts als olympischer Kitsch mit brauner Soße. Sie wurde aus Anlass der Berliner Sommerspiele von 1936 vom Sportfunktionär Carl Diem ersonnen und von Joseph Goebbels abgesegnet: Auf die Inszenierung von Pathos verstanden sich beide exzellent. Die Show ist im Prinzip gleich geblieben. Kein Wunder, dass der Auftritt antik gewandeter und frisierter Grazien noch immer anmutet, als sei Leni Riefenstahl die Idee für diesen Akt bei einem Katerfrühstück gekommen.

Da lässt sich ein zeitgenössischer Sportwettbewerb weit eher verkraften, zumal vor Ort keine Altertümer gefährdet sind: der Kugelstoßwettbewerb der leichtathletischen Disziplinen. Der, das haben sich die Organisatoren als Clou ausgedacht, soll auf historischem Grund ausgetragen werden. Die Archäologen nehmen es hin: Das Stadion von Olympia ist eine etwa vierzig Meter breite und 192 Meter lange staubige Fläche, an den Längsseiten gesäumt von zwei sanft ansteigenden Graswällen. Von dort können die Zuschauer den Blick über den grünen Kronoshügel wandern lassen oder über die flimmernde Ebene des Alpheiosflusses. Und sollten sie einen spannenden Wettbewerb erleben, werden sie auch die drückende Hitze vergessen, die im August über der Landschaft Elis steht.

Einwände kommen gewiss von olympischen Puristen. Erstens, sagen sie, war Kugelstoßen keine antike Disziplin. Zweitens: Warum an klassischer Stätte ausgerechnet die Paradedisziplin der Pharmaindustrie? Weshalb ein Wettbewerb, der mit seinen Dopingfällen die schmutzige Seite des professionalisierten Sports am reinsten verkörpert?

Solche Einwände schrecken die Veranstalter nicht. Es gilt allein, ein kostbares Produkt zu vermarkten: Olympia im Land seines Ursprungs – und Kugelstoßen sieht verdammt antik aus. Als ließe sich damit ihre Unschuld wieder herstellen, werden über unzählige PR-Wege die Ideale der Antike propagiert. Das Logo für „Athen 2004“ zeigt einen Kranz aus Olivenzweigen, der einst in Olympia auf Siegerhäupter gelegt wurde. Eine Broschüre zitiert, was ein persischer Offizier, als er von diesem Usus erfuhr, zum König gesagt haben soll: „Wehe Mardonios! Du führst uns in den Kampf gegen ein Volk, das nicht um Geldeswert ringt, sondern um den Tugendpreis!“

Das Motiv wurde schon von den Gründern der modernen olympischen Bewegung strapaziert. Ende des 19. Jahrhunderts machte Baron de Coubertin, ihr Begründer, die antiken Olympioniken zu jenen edlen Wettkämpfern, zu denen die bürgerliche Jugend ihrer Zeit erst erzogen werden sollte. Diese Neuerfindung des „olympischen Geistes“ stützte sich auf zwei Ideen: auf das harsche Gebot, Teilnehmen sei wichtiger als Siegen, sowie auf die Vorstellung vom klassischen „Amateur“, der nur seinen persönlichen Ruhm – und den seiner Polis – im Auge habe.

Der französische Baron verfocht diese Prinzipien schon deshalb, weil er die olympische Idee für die Eliten reservieren wollte. Am Ende des 19. Jahrhunderts war Profisport eine schmutzige, weil proletarische Sache. Das olympische Ideal sollte auf keinen Fall, beispielsweise durch Preisboxer, verunreinigt werden. Das Vorbild war der britische College-Sport, „the pleasure of sport for its own sake“ – die Freude am Sport um seiner selbst willen.

Die moderne olympische Bewegung blieb mindestens achtzig Jahre lang auf ein Ideal fixiert, das mit der Realität immer weniger zu tun hatte. Olympiasportler durften keine materiellen Interessen verfolgen: Taten sie es dennoch, wurden sie geächtet. Doch wie standfest sind die beiden Säulen der Olympiaideologie? Wie sah die Wirklichkeit der antiken Wettbewerbe aus, von denen das fünftägige Fest am Ort des Zeusheiligtums nur das berühmteste war?

Die olympische Idee vom glücklichen Teilnehmer unter „ferner liefen“ ist eine Schimäre. Der niederländische Althistoriker H. W. Pleket entlarvte sie als Erster: „Man kann sich schwerlich einen Satz ausdenken, den die alten Griechen schockierender gefunden hätten als das moderne olympische Credo ‚Teilnehmen ist wichtiger als Siegen‘.“ Im alten Hellas war der Sieg nicht nur wichtiger als die Teilnahme, er war das Einzige, das zählt. Zweite, gar dritte Plätze waren nichts. Silber- und Bronzemedaillen sind Erfindungen der modernen Olympiabewegung. Wer nicht Olympionike wurde, war ein Nichts, zog geschlagen von dannen wie nach einem verlorenen Krieg.

In der Heimat erging es den Verlierern so, wie es der Dichter Pindar in einer seiner Hymnen schildert: „Auf der Hut vor ihren Feinden drücken sie sich / In Hinterhöfen herum, von ihrem Missgeschick erdrückt.“

Wo der Sieg alles ist, wird man alles tun, um Sieger zu bleiben. Das bringt die zweite ideologische Säule ins Wanken, das Bild vom olympischen Amateur. Der Befund ist eindeutig: „Alle Sportler, die in der Antike erfolgreich gewesen sind, waren ausnahmslos Profis, hoch begabte und spezialisierte Menschen, die ihre körperlichen Fähigkeiten durch laufendes Training auf hohem Niveau hielten“, so der Würzburger Archäologe Ulrich Sinn, der für das Deutsche Archäologische Institut in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts Grabungen in Olympia leitete.

Zum Profi gehört, dass er für seine Leistungen entlohnt wird. Die Annahme, bezahlte Athleten habe es in der Antike nicht gegeben, ist die Mutter aller Olympiamythen. Der Althistoriker David C. Young hat diese Mär schon 1984 widerlegt. Weil damals Profisportler noch von Olympischen Spielen ausgeschlossen waren, schrieb er den klassischen Satz: „Kein Sieger von Olympischen Spielen im klassischen Griechenland dürfte bei den modernen Spielen auch nur antreten.“

Der antike Profi wurde von den Gründern der modernen Olympiabewegung auch deshalb geleugnet, weil die ältere Forschung noch strikt zwischen Kranz- und Preisspielen unterschied. Die Kranzspiele waren die vier „heiligen Wettbewerbe“, die alle vier Jahre in Olympia, in Delphi, am Isthmus von Korinth und in Nemea stattfanden. Hier wurden die Sieger mit Oliven- oder Kiefernzweigen bekränzt. Bei Preisspielen hingegen gab es Geldprämien oder Naturalien wie Olivenöl zu gewinnen.

Der Unterschied zwischen Kranz- und Preisspielen ist indes irreführend, denn die Teilnehmerfelder waren identisch. Spitzenathleten konnten also in Olympia oder Delphi ihr Prestige aufbessern und anschließend auf einer Wettkampftournee Preise abräumen. Nur so ist die Bilanz des Schwerathleten Theogenes von Thassos zu erklären, der in 22 Jahren 1.300 Siege errang.

Wie viel Geld ein solcher Champion machten konnte, hat David C. Young an einem Beispiel durchgerechnet. Aus einer Inschrift wissen wir, dass im 4. Jahrhundert v. Chr. bei den Panathenischen Spielen der Sieger im klassischen Stadionlauf (über knapp zweihundert Meter) hundert Amphoren Olivenöl erhielt. Der Marktwert dieser Prämie betrug 1.200 Drachmen. Dafür musste ein Zimmermann fast drei Jahre arbeiten. Der Athener Sprintsieger gewann also ein Vermögen. Nach Young reichte das Geld für eine Herde von hundert Schafen, für sechs bis sieben Sklaven der mittleren Preislage oder für eine Luxusvilla in bester Athener Lage.

Zu solchen Honoraren kamen die Vergünstigungen, die ein Spitzenathlet von der eigenen Polis erwarten durften. Der Ruhm, der von einem Sieg bei den Kranzspielen herrührte, wurde durch solche Einnahmen keineswegs verunreinigt. Die Sockelinschriften auf den Siegerstatuen rühmen unterschiedslos die Erfolge bei heiligen Spielen wie bei Geldwettkämpfen. Der Sporthistoriker Michael Poliakoff schließt: „Puristen, die sich weigerten, Geld und Sport zu vermischen, gab es im Altertum nicht.“

Das ist ein Seitenhieb auf die Missionare des Amateurideals, die bis vor zwanzig Jahren das Internationale Olympische Komitee (IOC) dominierten. Die zweite Generation der IOC-Puristen argumentierte allerdings nicht mehr so naiv wie die Gründerväter. Sie behalfen sich mit der „Verfallsthese“, die in vielen Varianten durch die Altertumswissenschaften geisterte. Demnach herrschte der „reine olympische Geist“ nur in den ersten dreihundert Jahren der Spiele, bis etwa 480 v. Chr.

Das behauptete auch der US-Amerikaner Avery Brundage, der dem IOC nach 1945 vorstand und bis ins hohe Alter die Pestilenz des Professionalismus bekämpfte. Auch er projizierte sein Ideal ins alte Griechenland zurück: Die antiken Spiele seien zunächst eine Amateurveranstaltung gewesen, ehe es zu „Missbrauch und Exzessen“ kam. Brundage: Aus „reiner Freude, Erholung, Zeitvertreib wurde Geschäft. Die Spiele degenerierten, büßten ihre Reinheit und ihren hohen Idealismus ein …“ Auch diese Degenerationsthese ist längst widerlegt. Der materielle Anreiz war von Anfang an im Spiel. Wir können es schon bei Homer nachlesen, der seine „Ilias“ etwa zur Zeit der ersten Olympischen Spiele verfasst hat.

Bei den Leichenspielen für Patroklos, die das griechische Expeditionskorps vor dem belagerten Troja veranstaltet, gibt es für die Sieger wertvolle Pämien. Auch bei den Pythischen Spielen in Delphi waren ursprünglich Preise zu gewinnen. Belegbar sind die ersten Profiathleten seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert. In dieser Zeit setzt allerdings eine Entwicklung ein, die den elitären Olympiaideologen als „Degeneration“ erscheinen musste: Zu den Athleten aus der Aristokratie, die auf Siegespreise nicht angewiesen waren, stießen Profis aus den unteren Schichten, Kuhhirten etwa oder Fischhändler. Sportförderung durch die Polis, die Übungsstätten wie Gymnasien und Paläestren (Ringkampfanlagen) errichten ließen, führte zu Leistungssteigerungen, die wiederum die Attraktion für die Zuschauer erhöhte. Das war die Geburt des Wettkampfs für das passive (aber mitfiebernde, sich identifizierende, wettende) Publikum – und wachsende Popularität verstärkte den Trend zur weiteren Professionalisierung.

Das hatte Zustände zur Folge, die wir vom heutigen Profisport kennen. Seitdem gibt es spezialisierte – und gut bezahlte – Trainer und ärztliches Personal, das auch die Ernährungsweise kontrolliert. Die Athleten vertilgen vor allem Fleisch, was damals schierer Luxus war. Die Ernährungsweise hieß bezeichnenderweise ananga-fayia: Zwangsdiät. Sie sollte vor allem bei Schwerathleten für das erwünschte Kampfgewicht sorgen.

Solche Mastkuren lohnten sich schon deshalb, weil die Schwerathleten keine Gewichtsklassen kannten. Hier dominierten folglich Furcht erregende Gestalten. Vom Ringer Milon, der allein in den vier Kranzspielen 32 Mal Sieger blieb, berichten antike Quellen, er habe täglich achtzehn Pfund Fleisch und ebenso viel Brot vertilgt. Und einmal habe er „einen vierjährigen Stier rund um das Stadion getragen, um ihn innerhalb eines einzigen Tages aufzuessen“.

Kein Wunder, dass beim Anblick Milons viele Gegner auf einen Kampf verzichteten. Trauten sie sich dennoch, konnte vom „fairen Kräftemessen“ keine Rede sein. Wir müssen uns das Geschehen eher wie den Showdown in einem Bud-Spencer-Film vorstellen. Der Siegertyp Milon ähnelte einem modernen Boxchampion weit mehr, als es Baron de Coubertin lieb sein konnte.

Der Riese Milon stammte aus Kroton, einer griechischen Pflanzstadt im heutigen Kalabrien. An dieser Stadt lässt sich eine weitere Entwicklung illustrieren: die Entstehung professioneller Trainingszentren. Kroton entwickelte sich zur Hochburg der Sprinter. In Olympia dominierten die Läufer aus Unteritalien ab 588 v. Chr. hundert Jahre lang den Stadionlauf, ehe die Dominanz verloren ging. Youngs Erklärung: „Kroton rekrutierte seine Athleten von anderen Städten, indem es sie aus der Staatskasse belohnte oder anderweitig unterstützte.“ Das Sportimperium zerbröckelte, als das Geld ausging. Tatsächlich verlor die Stadt um 480 v. Chr. ihr Münzmonopol und damit ihre ökonomische Vorherrschaft.

Die Folgen für die Sportpolis illustriert der Fall des Sprinters Astylos. Der hatte 488 und 484 im olympischen Stadionlauf für Kroton gesiegt. Auch 480 gewann er, aber diesmal für Syrakus. Die Tyrannen der sizilianischen Stadt hatten den Supersprinter gekauft. Die Professionalisierung bedeutete auch, dass sich Spitzenkräfte von einer ehrgeizigen Polis ködern ließen. So wie sich heute europäische Länder kenianische Langläufer einbürgern, damit sie konkurrenzfähige Athleten in olympische Rennen schicken können.

In dieser Hinsicht waren die antiken Spiele ebenfalls dem Sportbetrieb unserer Tage ähnlicher als das ideale Olympia de Coubertins, das uns im Vorfeld der Athener Spiele wieder vorgegaukelt wird. Um den Mythos von den klassischen Amateuren zu beatmen, zitieren die griechischen Broschüren gern die Hymnen Pindars aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Dabei verschweigen sie, dass der Mann ein professioneller Auftragsschreiber war. Selbst der Dichter, der die Olympioniken besang, tat dies nur gegen Honorar.

NIELS KADRITZKE, Jahrgang 1943, Mitglied der deutschen Redaktion von Le Monde diplomatique , lebt in Berlin und Athen