: Der Traum von der kleinen, kurdischen Erde
Vor acht Jahren floh der Kurde Cofur Shushe mit seiner Frau und seinem Erstgeborenen nach Berlin. Sein ganzes Leben sei Krieg gewesen, sagte er. Er glaubt, der jetzige Krieg in seinem Land sei der letzte. Danach komme Frieden. Deshalb hat er sich nun auf die Suche nach seiner Heimat gemacht
VON WALTRAUD SCHWAB
Vor einem Jahr, als der Krieg im Irak begann, besuchte die taz den irakischen Kurden Cofur Shushe, seine Frau Keustan und deren drei Kinder in ihrer Kreuzberger Wohnung. Wir berichteten von ihrem Leben in Berlin, ihren Erinnerungen an den Irak, ihren Hoffnungen und Ängsten. Ein Jahr nach Kriegsbeginn macht sich nun die fünfköpfige Familie auf nach Kirkuk, um ihre Heimatstadt zu besuchen.
Vier Koffer sind gepackt. Jeder der drei Söhne hat einen, den vierten teilen sich Shushe und seine Frau. Nach Kirkuk wollen sie. Schneidend betont der 45 Jahre alte Kurde den Namen der Stadt im Norden Iraks. Kirkuk – an diesem Flecken Erde haben er und seine Frau sich blutig gerieben aus Verzweiflung und Sehnsucht. Es ist ihre Heimat, die ihnen – so fühlen sie es bis in die kleinsten Poren der Haut – ihr Leben lang streitig gemacht wurde. Nun kehren sie zum ersten Mal zurück. Am Jahrestag des Krieges, der Saddam Hussein vom Sockel stürzte. Für Hussein, den Diktator, hat Shushe keine Worte mehr. Er kann keine haben für jemanden, der ihm, wenn er nur auf dem Bildschirm seiner Wohnung in Kreuzberg erschien, Angst einflößte. Shushe war bereit, jedes Opfer zu bringen, um ihn loszuwerden. Noch ein Krieg, meinte er vor einem Jahr, was mache das? Sein ganzes Leben sei Krieg gewesen. „Dieser wird der letzte sein“, davon war er überzeugt.
Vier Wochen will Shushe im Irak bleiben und Kundschafter seiner Träume sein. „Natürlich möchte ich dort leben. Keine Minute bleibe ich hier, wenn es in Kirkuk sicher ist“, sagt er und malt sich ein Leben aus: „Alles ist billiger dort. Für 3.000 Euro kann ich ein Haus haben. Mit Garten. Hier kann ich in 20 Jahren kein Haus haben. Man kann eine kleine Erde dort kaufen.“ Seine Träume werden immer wieder von Rückschlägen getroffen. „Meine Familie dort, sie haben Häuser. Aber keine Arbeit, eine solche Sicherheit nicht. Immerhin, sie können schlafen ohne Angst. Meine Familie hat eine kleine Erde, aber sie kann kein Gemüse anbauen. Es gibt kein Wasser. Man muss Geduld haben.“ Shushe hat gelernt, sich über die Zeit der Unwägbarkeiten hinwegzutrösten. „Ich habe viele Träume. Sehr gute Träume. Für meine Familie. Für meine Kinder. Ich möchte, dass sie lernen und studieren. Ich kann dort eine Firma machen. Ich bin Maurer. Das ist meine Arbeit, mein Beruf. Ich sehe viele Chancen. Es ist wie ein Lottogewinn.“
In Kirkuk will Shushe mit vielen Leuten sprechen. Mit dem Polizeichef, mit dem zusammen er zur Schule ging, mit dem Bürgermeister, der aus Shushes Familienclan stammt. „Ich werde die Leute fragen, wie das Leben ist. Gut? Schlecht?“ Es gebe Probleme mit den Arabern, meint er. Hussein habe sie umgesiedelt in die Häuser der Kurden. Zehn, zwanzig Jahre ist das her. Nun müssten sie zurück in ihre Herkunftsstädte. Nur in Kirkuk gebe es dieses Problem. Trotzdem werde er auch mit arabischen Leuten sprechen. „Ich möchte sie fragen, was sie wollen.“
Chancen und Unmöglichkeiten einkreisen – das ist Shushe in Fleisch und Blut übergegangen. Von der Zukunft springt er in die Vergangenheit. Die Gegenwart aber bleibt das Loch, in dem er feststeckt. „35 Jahre war unsere Familie arbeitslos. Früher durfte ich kein Auto besitzen. Früher, als mein Vater jung war, hat er sich eine kleines Stück Land gekauft. Die Regierung hat gesagt, das geht nicht, du bist Kurde, und ihm den ‚Erdebrief‘ genommen.“ Keustan, seine Frau, erzählt aufgeregt, dass ihre Mutter 20 Donum Land hatte. Ein Donum sind 2.500 Quadratmeter. Die Regierung habe ihr das Land genommen. Es gab Öl dort. Kurden durften keinen Grundbesitz haben. Cofur Shushe: „Glauben Sie, unser Leben in Kirkuk war keins. Wenn man kein Land haben darf, kein Haus, kein Auto, kein Studium, keine Arbeit. Verboten, alles verboten, weil du Kurde bist. Nur Soldat, das musste ich sein. Zehn Jahre und sieben Monate.“
Keustan, die Frau, legt das Hochzeitsvideo ein, um ihre Mutter zu zeigen. Als sie ins Bild kommt, wird die 32-Jährige aufgeregt. „Da, da ist sie. Meine Mama.“ Dann erzählen die beiden die Geschichte von der Hochzeit, die sie nicht in Kirkuk feiern durften, weil sie Kurden waren, sondern in Suleymania feiern mussten. Die Stadt liegt im kurdischen Nordirak, auf den Saddam Hussein keinen Zugriff hatte. Deshalb waren nur ihre Schwester und ihre Mutter dabei. Sie mussten Beamte bestechen, um dorthin reisen zu können. Keustan, die weiß gekleidete Braut, schaut traurig in die Kamera. Nicht weil es eine arrangierte Ehe war, sondern weil ihre Familie nicht dabei war, meint ihr Mann. Eine Woche nach dem Fest wurde Shushe in Kirkuk verhaftet. „Weil er geheiratet hatte“, sagt er. Keustan kaufte ihn frei mit ihrem Hochzeitsschmuck. Kurze Zeit später wurde er wieder verhaftet. Diesmal verkaufte sie alles, und als er aus dem Gefängnis kam, flohen sie.
„Ich habe ein Frage“, meint Shushe plötzlich. Er kenne viele kurdische Familien hier. Der Staat bezahle ihnen Wohnung, Unterhalt und Krankenversicherung. „Der Bruder von Keustan lebt im Asylbeweberheim in Leipzig. Er hat ein schlechtes Leben dort. Das Heim ist auch teuer.“ Warum gibt Deutschland den Menschen nicht das Geld, das es hier in einem Jahr für sie zahlen würde, will Shushe wissen. Wer gibt ihm die Antwort? „Mit 10.000 Euro können sich die Leute dort eine kleine Erde kaufen, ein Geschäft machen“, fährt Shushe fort. Er ist sich sicher, sie kämen nie mehr zurück. „Wenn ich ein Haus hätte in Kirkuk, ein kleines Geschäft, ich würde dort bleiben.“
Acht Jahre habe ich meine Familie nicht gesehen“, sagt Shushe. Viel zu lang. Die Zeit habe einen anderen aus ihm gemacht. Einen Wartenden. Einen, der auf das Kleine schaut: den Zucker im Tee, die weiche Handlinie seiner Frau, die roten Locken seines Jüngsten, die ihm ein Lächeln auf sein Gesicht zaubern. „Wir denken jetzt zu viel“, sagt Shushe. Die Flucht, das Exil, die Stadt, die Arbeitslosigkeit in Berlin, die Behinderung des ältesten Sohnes, der nur schwer gehen und sprechen kann, die Freundlichkeit der Berliner und ihre Ablehnung, all das hat Spuren hinterlassen. „Wir haben Zeit für unsere Kinder. Wir schlagen sie nicht. Wir denken, dass jedes Kind seinen eigenen Platz braucht. Wir wollen nicht, dass ständig Besuch kommt, ohne sich anzumelden. Wir sind öffentlich, weil wir sagen, was wir denken“, sagt Shushe. „Früher durften Kinder nicht mit Erwachsenen sprechen. Früher wurden Kinder geschlagen. Früher gab es hundert Verbote für Frauen. Darf nicht, darf nicht, darf nicht – das ist nicht gut. Ein Verbot – das ist ohne Frage. Das ist ohne Antwort.“ Dann sagt er nichts mehr und starrt eine Weile in die Wolken über der Stadt.