: Ein komplexer Stoff
Um Schokolade ranken sich religiöse Überzeugungen. Qualität und Genuss sind nicht nur eine Frage des Kakaoanteils, sondern auch von Kindheitserinnerungen, gewagten Experimenten und Purismus
VON LARS KLAASSEN
Eine Meldung aus aktuellem Anlass: „Schokolade bricht das Fasten nicht“. Das verkündete zumindest Papst Pius V. im Jahr 1569, nachdem er eine Tasse ungesüßten Kakao gekostet hatte. Wir dürfen uns also auch in den Wochen zwischen Aschermittwoch und Ostern getrost diesem Stoff widmen, um den sich religiöse Überzeugungen ranken. Dabei geht es um mehr als dogmatische Grundpositionen wie „süß oder bitter“, „hell oder dunkel“, „gefüllt oder pur“. Es geht um Genuss. Und das ist eine komplexe Angelegenheit – mit der sich Chocolatistas ein Leben lang wonnevoll befassen.
Für Esther Kurtz ist der Genuss von Schokolade vor allem eine Einstellungssache: „Über den Kakaoanteil bis aufs halbe Gramm zu fachsimpeln, ist übertrieben.“ Natürlich finden sich in Estrellas Chocolaterie, die sie betreibt, Tafeln und Pralinen aus exzellenten Zutaten, die ausgewogen komponiert und sorgfältig zubereitet wurden. Solcherlei ist die Grundvoraussetzung für den Genuss von Schokolade – aber eben kein Selbstzweck.
Zudem gehen Qualitätsfragen für Esther Kurtz über Rezepturen hinaus: Entscheidend ist etwa auch die Frage, wo der Kakao herkommt. Von 100 Produzenten kommen 70 aus Afrika, 20 aus Asien und 10 aus Lateinamerika. Die meisten gehören zu den ärmsten der Welt. 75 Prozent haben noch nie von einer Schokoladentafel gekostet. 80 Prozent des Schokoladenmarktes werden von sechs multinationalen Unternehmen kontrolliert. Einige kleine Hersteller wie Valrhona, Michel Cluizel oder Bio-Chokolatier Moulin des Moines sind für ihre exquisite Schokolade bekannt. Was weniger bekannt ist: Diese Unternehmen können die Herkunft ihres Kakaos bis zum Anbau zurückverfolgen – und sorgen dort immerhin für Mindeststandards. Ein Detail, das für Esther Kurz bei Qualitätsfragen rund um das begehrte Objekt eine Rolle spielt.
Wie der Luxus letztlich zelebriert wird, ist aber noch eine ganz andere Frage, jenseits von Political Correctness und milligramm-fixierter Faktenhuberei. Die richtige Stimmung und das passende Ambiente sind für Esther Kurtz die entscheidenden Kriterien. Fadenscheinige Qualitätsdogmen von selbst ernannten Schokoladen-Päpsten dürfen ignoriert werden. Jeder nach seiner Fasson. Jeder nach Lust und Laune.
Für die richtige Form sorgt Esther Kurtz im Hinterzimmer ihrer Chocolaterie: Dort schmilzt sie Schokolade und füllt diese in Gussformen. Altertümliche Osterhasen, Lämmer und anderes hat sie zum Teil auf Trödelmärkten aufgetrieben. Die nostalgisch anmutenden Schokoladenfiguren wecken Kindheitserinnerungen. Schokolade reizt aber nicht nur als vertrautes Nestwärme-Déjà-vu. Es geht auch ganz anders: Fremd und exotisch kommt der mit Chilli gewürzte Kakao daher. Schokoladig-scharf ist ungewohnt – aber passt.
Dinge, die nicht füreinander bestimmt zu sein scheinen, fügt Schokoladenhersteller Zotter aus Österreich zu aufregenden Kompositionen. So manche sind sicher nicht jedermanns Sache, aber einen Versuch sind sie allesamt wert. Da werden geröstete, karamellisierte, mit süßem Mandelnougat und Zimt verfeinerte Schweinsgrammeln (Grieben) in einem 65-prozentigen Kakaomantel vereint. Oder: In Kaffeemarinade eingelegte Pflaumen plus geröstete, karamellisierte Speckstückchen? „Krachlecker“, sagt Holger in’t Veld. Wie Esther Kurz ist auch er ein Freund gewagter Experimente und führt Zotter-Schokolade in seinem Laden. Aber seine wahre Leidenschaft konzentriert sich auf Kakao als solchen. Holger in’t Veld ist Purist.
Es gibt zwei Kakao-Spezies und eine Kreuzung aus beiden. Aus diesen entstehen über 3.000 Sorten verzehrfähigen Kakaos, die sich geschmacklich unterscheiden. Und da der Kakao das Aroma der Schokolade prägt, sollte nicht nur sein Anteil entsprechend hoch sein. Auch auf die Sorte der Kakaobohnen kommt es an. Ähnlich wie beim Wein eröffnen sich unzählige Geschmacksnuancen.
Ob minzig, fruchtig oder nussig: Die Geschmacksvarianten kommen aus der Bohne. Füllungen, Gewürze oder andere Zutaten wie Milch sind dafür nicht vonnöten. Im Gegenteil: „Solche Zutaten können den Geschmack des Kakaos überdecken“, sagt Holger in’t Veld. Und das wäre in einigen Fällen sehr schade. Zum Beispiel bei der Chuao aus dem Hause Amedei – einer Favoritin des Schokoladenschatzhüters: „Frisch, pflaumig, prickelnd, sinnlich – der Champagner unter den Tafeln“, schwärmt er.
Aber es gibt noch Steigerungen: In Gourmet-Schokoladen liegt der Kakaoanteil meist bei rund 70 Prozent. In’t Veld führt auch Tafeln, die zu 100 Prozent aus Kakao bestehen – und die gehören zu seinen Kronjuwelen. „Die Produktion wird da zur Kunst.“ Und die besteht darin, aus bitterem Kakao ohne weitere Zutaten eine „Highend-Schokolade“ zu kreieren.
Estrellas Chocolaterie: Akazienstr. 21, 10823 Berlin, Mo. bis Fr. von 10 bis 19 Uhr, Sa. 10 bis 14 Uhr. in’t Veld: Dunckerstr. 10, 10437 Berlin, Mo. bis Fr. 12 bis 19 Uhr, Sa. 11 bis 16 Uhr, www.intveld.de