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Archiv-Artikel

Jenseits des reinen Funktionierens

Deus ex Theoria Critica: Jürgen Habermas wendet sich neuerdings immer mehr den Glaubenswahrheiten des Christentums zu. Das große Ganze, für das die Religion einst zuständig war, scheint in seiner Theorie Phantomschmerzen hinterlassen zu haben

Habermas verkennt, dass die Religion machtlos bleiben muss – sonst fließt Blut

VON NORBERT BOLZ

Was hat denn die Kritische Theorie plötzlich mit dem Katholizismus? Viele Linksintellektuelle haben sich irritiert bis verstört darüber gezeigt, dass ihr Leitphilosoph Jürgen Habermas sich in einer – eben deshalb! – Aufsehen erregenden Diskussion so blendend mit dem Vordenker des Vatikans, Kardinal Ratzinger, verstanden hat. Doch dieses Erstaunen ist unphilosophisch. Habermas kann zu Recht darauf hinweisen, dass sich die Grundzüge seines Denkens seit seinem Hauptwerk über die Theorie des kommunikativen Handelns nicht verändert haben. Es ist in seinem Werk mehr Christentum angelegt, als viele es bislang für möglich gehalten haben.

Habermas hat die Kritische Theorie der Frankfurter Schule schon sehr früh in eine Theologie der Alltagskommunikation umgebettet. Ihr Schlüsselmotiv eines wahrheitsstiftenden Konsenses geht ausdrücklich auf die jüdische Bundesidee zurück. Die Bundesgenossenschaft Jahwes mit seinem Volk ist also die Urzelle der Kommunikationsgemeinschaft. Das philosophische Projekt der Moderne hat demnach einen theologischen Kern. Und genau hier versteht sich Habermas als kritischer Interpret des Diskurses der Moderne selbst. Dieser habe nämlich seit 1800 nur „ein einziges Thema“: Entfremdung – und das aus ihrem Geist geborene „Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende Macht der Religion“. (Für alle Ungläubigen nachzulesen in: Jürgen Habermas, „Der philosophische Diskurs der Moderne“, S. 166.)

Die vakante Funktionsstelle Versöhnung soll modern durch „die vereinigende Macht der Vernunft“ umbesetzt werden. Noch deutlicher: Vernunft soll das Pensum der Religion übernehmen. Doch wie soll das konkret vonstatten gehen? Modern auf jeden Fall nur als und in Kommunikation. Der philosophische Diskurs der Moderne kann Religion nur insoweit ersetzen, als es ihm gelingt, ihre semantischen Gehalte wie Versöhnung, Einheit, Transzendenz und Gottesebenbildlichkeit in Argumentation zu übersetzen.

Die List der Vernunft im Gespräch zwischen Habermas und Ratzinger läge dann darin, dass die Kritische Theorie mit dem Monotheismus so lange friedlich koexistiert, bis sie dessen gesamtes Pensum in einer Theologie der Alltagskommunikation aufgehoben hat. Habermas macht also Ernst mit der Anweisung seines Lehrers Adorno, die theologischen Gehalte durch Säkularisierung zu retten. Wie das gehen soll, ist bei Adorno noch dunkel geblieben. Habermas dagegen hat ein klares Säkularisierungskonzept, mit dem seine Theorie des kommunikativen Handelns steht und fällt: die „Versprachlichung des Sakralen“. Die Autorität des Heiligen wird durch die Autorität des Konsenses ersetzt. An die Stelle der Gebote Gottes tritt die Geltung der Moral. Kommunikation muss so organisiert werden, dass sie die Bindungskraft des Rituals gewinnt.

Man kann die hermeneutische Meisterleistung nur bewundern, in der Habermas Max Webers berühmte Zwischenbetrachtung als dramatische Auseinandersetzung zwischen der kommunikativen Brüderlichkeitsethik des Christentums und der kalten Rationalisierung der innerweltlichen Lebensordnungen rekonstruiert. Habermas möchte die Brüderlichkeitsethik retten, ohne aber ihre historischen Hypotheken der Erlösungsreligiosität und der kapitalistischen Rationalisierung übernehmen zu müssen. Die Einheit stiftende Macht und die Distanz ermöglichende Transzendenz des Religiösen sollen in alltäglicher Kommunikationspraxis säkularisiert werden.

So weit, so gut. Doch damit begnügt sich Habermas nicht. Er braucht für seine Theologie der Alltagskommunikation auch den obersten Begriff der Religion: das Absolute. Hier funktioniert Säkularisierung nach dem Schema der Verflüssigung, mit dem er auch in anderen Zusammenhängen gern zaubert. So wird Moral „kommunikativ verflüssigt“, Souveränität „prozedural verflüssigt“ usw. Das Spitzenprodukt der Rettung theologischer Gehalte in der Kritischen Theorie ist entsprechend „ein zum kritischen Verfahren verflüssigtes Absolutes“.

Die Umbesetzung der Funktionsstelle von Religion durch Vernunft wird aber nur dann plausibel, wenn man Hegel darin folgt, wie er „sittliche Totalität“ an der urchristlichen Gemeinde exemplifiziert hat. Sie ist für Habermas ein Prototyp von Solidargemeinschaft und kommunikativer Vernunft. Die Theorie der Liebe in Hegels Jugendschriften gewinnt hier eine Schlüsselfunktion. Sie markiert den geistesgeschichtlichen Umschlagspunkt von Religion in Vernunft und die Chance, von Reflexionsvernunft auf Kommunikationsvernunft umzuschalten. Leider habe Hegel diese Chance verpasst, und deshalb gibt es die „Theorie des kommunikativen Handelns“ nicht schon seit 1807, sondern erst seit 1981.

Wer von diesem Opium noch nicht beduselt ist, wird vielleicht fragen, was all das mit der modernen Gesellschaft zu tun haben soll. Doch Habermas kommt diesem Zweifel zuvor. Er leugnet nicht, dass er mit Idealen handelt, sondern er deutet sie geschickt um in „den Stachel eines idealisierenden Weltentwurfs“. Mit Bedacht wählt Habermas das theologische Bild vom Stachel im Fleisch. Gemeint ist der kritische Stachel kontrafaktischer Rationalitätsunterstellungen im Fleisch der Gesellschaft. In listiger Umkehrung der Formel von der normativen Kraft des Faktischen spricht er auch von der „faktischen Kraft des Kontrafaktischen“.

Um das zu verstehen, muss man sich an Kants Unterscheidung intelligibel/empirisch erinnern. Habermas’ Pointe ist nun, dass die Idealisierungen des Kommunikativen diese Unterscheidung unterlaufen und eine kritische Spannung erzeugen. Das Intelligible wird aus dem Himmel der Ideen auf die lebensweltliche Erde herabgeholt und wirkt nun als kontrafaktische Grundlage der Kommunikation. Das hat aber den wunderbaren Effekt, dass auch die „vermachtete“ Kommunikation – der Output der Massenmedien zum Beispiel! – „im Lichte dieser innerweltlichen Transzendenz“ erstrahlt. (Nochmals ein Texthinweis für Ungläubige: „Faktizität und Geltung“, S. 19) Adorno-Fans werden sich hier daran erinnern, dass die „Minima Moralia“ sehr ähnlich mit dem „Licht der Erlösung“ enden.

Habermas versteht sich aber nicht nur als Theologe der Alltagskommunikation, sondern zugleich auch als Soziologe der modernen Gesellschaft. Die Brücke zwischen beiden Aufgaben schlägt er mit Hilfe einer interessanten Unterscheidung, die in seiner Friedenspreis-Rede über „Glauben und Wissen“ besonders deutlich wird. Habermas unterscheidet hier zwischen einer säkularen Gesellschaft, die das Produkt vernichtender Säkularisierung ist, und einer postsäkularen Gesellschaft, die sich durch rettende Säkularisierung auszeichnet. Die säkulare Gesellschaft eliminiert die theologischen Gehalte, die postsäkulare transformiert sie.

Wie kommt es zu dieser Differenz? Etwas ging im Übergang zur Moderne verloren, und das „hinterlässt eine spürbare Leere“. Das Vermisste kann aber nur in anverwandelnder Kommunikation gerettet werden. Nun ist es gar nicht schwer zu sagen, was Habermas in der modernen Welt vermisst – nämlich die unbedingte Geltung moralischer Pflichten. Für die moderne Gesellschaft ist zwar noch die Wertungsweise der Moral verbindlich, aber ihre Werte selbst sind es nicht mehr. Und deshalb gibt es eine neue Nachfrage nach religiöser Verankerung der Moral.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich Habermas in letzter Zeit immer entschiedener den überlieferten Glaubenswahrheiten zuwendet. Zum einen ist Religion spezialisiert auf das Ganze, also genau das, was in der modernen Gesellschaft verloren ging und in romantischen Seelen einen Phantomschmerz hinterlassen hat. Zum andern heißt Religion immer auch: Es gibt ein Jenseits des Funktionierens. An der Religion interessieren Habermas vor allem auch die Rejektionswerte, mit denen man die Logik des Marktes und die Logik der Technik zurückweisen kann („Die Sprache des Marktes dringt heute in alle Poren ein“). Und der polemische Sinn der Berufung auf den christlichen Gott wird deutlich, wenn Habermas näher bestimmt, was der Schöpfer nicht tut: er operiert „nicht wie ein Techniker oder wie ein Informatiker“.

Techniker, Informatiker und Ökonomen sind die Agenten der hässlichen Moderne, die uns um das gute Leben betrügen. Ihr entspricht der Funktionalismus einer Systemtheorie, die lediglich beschreibt, was funktioniert. Wer hier eine „Leere“ verspürt, wird den Sinnangeboten der Religion nicht widerstehen können. Sich so trösten zu lassen setzt aber voraus, dass man Religion nicht ihrerseits als System der Gesellschaft begreift, sondern als deren Korrektiv. In einem Aufsatz für die ZEIT vom 24. 10. 2002 hat der Historiker Paul Nolte diesen Anspruch, „die Modernisierung durch Religion zu zivilisieren“, sehr klar formuliert. Das hat offenbar auch Habermas im Sinn. Pikant an dieser Übereinstimmung ist, dass Nolte Vorschläge für einen neuen Konservativismus gemacht hat. Wie es scheint, ist Habermas genau dahin unterwegs.

Die Forderung des Philosophen des Projekts der Moderne, religiöse Gehalte durch Säkularisierung zu retten, ist durchaus unmodern. Für die moderne Gesellschaft ist es nämlich charakteristisch, dass sie die Religion nicht säkularisiert, sondern ausdifferenziert. Mit anderen Worten: Die Religion darf in der modernen Gesellschaft so bleiben, wie sie ist, doch sie muss sich damit begnügen, nur ein System unter anderen zu sein. Und Fundamentalisten nennen wir diejenigen, die sich damit nicht abfinden können.

Jede Religion in der modernen Welt wird durch andere Religionen relativiert, durch den Staat neutralisiert und durch die Wissenschaft entzaubert. Religion muss Privatsache bleiben, sonst kommt ein Wahrheitsanspruch in den öffentlichen Diskurs – und Blut fließt. Diesen seit Thomas Hobbes klaren Sachverhalt verkennt Habermas völlig, wenn er vom „unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit“ spricht. Man muss nicht auf den Iran schauen, um zu sehen, was passiert, wenn Glaubenswahrheiten den politischen Diskurs mitbestimmen – dazu genügt schon ein Blick nach Amerika. In dieser Frage können wir immer noch von unseren westlichen Nachbarn lernen: Frankreichs Laizismus bleibt vorbildlich. Denn Religion ist nur tolerant, solange sie machtlos ist.