Ein Lob auf Deutsche Leitkultur

Deutschland ist für Einwanderer ein schönes Land: Ordnung und Pünktlichkeit, ein Paradies für Heimwerker – vor allem aber die Idee von sozialer Gerechtigkeit. Ein Lob zum Internationalen Tag gegen Rassismus an diesem Sonntag

Eine Gesellschaft, die sich nur über ihre Subkulturen definieren will, lehne ich ab

VON SANEM KLEFF

Deutschland ist ein schönes Land. Und ein gutes Einwanderungsland. Vielleicht nicht schöner als Frankreich, die Niederlande oder Großbritannien, aber für Menschen wie mich, die als Einwanderer nach Deutschland, steht doch fest: Wir haben eine ziemlich gute Wahl getroffen.

Jahrzehntelang wurden andere Länder in der Multikultidebatte als vorbildlich gepriesen. Es hieß, in jenen Ländern werden Einwanderer schneller und unbürokratischer eingebürgert, das Abstammungsprinzip spiele dort keine besondere Rolle, Antidiskriminierungsgesetze gehörten zum Alltag, und die TV-Nachrichten würden, zum Beispiel in England, von indischstämmigen Moderatorinnen verlesen.

Warum fühle ich mich – und viele, viele andere – in Deutschland wohl, trotz solcher Bilder, wie sie mit Mölln, Lichtenhagen und Solingen verbunden werden? Das hat gute Gründe, und mancher mag sie nicht gern hören. Warum Deutschland auch unser Land wurde, hat wesentlich mit zwei Tatsachen zu tun. Einwanderungsgesellschaften schaffen es besser, befriedet zu sein, wenn sie den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit mit dem Ideal einer gemeinsamen Identität, also einer Leitkultur verbinden. In Westdeutschland war dies nach 1949 der Fall.

Die Idee der sozialen Gerechtigkeit wurde in den Nachkriegsjahren nicht belächelt. Chancengleichheit, Anhebung des Lebensstandards und die Öffnung des Bildungssystems für die minderprivilegierten und sozial unterprivilegierte Schichten – das war der Konsens, und er ermöglichte es auch dem katholischen Landmädchen, Abitur zu machen und zu studieren.

Das alles sprach sich in den Mittelmeerländern schnell herum – auch in der Heimat meiner Eltern, der Türkei. Sie hörten die unglaublichen Erzählungen, nach denen Deutschland über ein soziales Netz verfügt, geknüpft aus Tariflöhnen, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Renten und Bafög. Kein Wunder, dass die Zuwanderer in ein gelobtes Land drängten und in den Anwerbebüros ihrer Heimatländer gerne Schlange standen.

Gleichzeitig entwickelte sich nach 1949 eine neue Leitkultur. Es waren Normen und Werte, die die Identität Westdeutschlands ausmachen sollten. Dazu gehörten nicht nur die traditionell „deutschen“ Tugenden wie Sauberkeit, Pünktlichkeit und Ordnung – und gerade sie gelten nicht als negativ wie bei manchen in Deutschland.

Im Gegenteil: Das Land der Heimwerker, Hobbybastler und Bürgersteigkehrer wurde im Ausland ihretwegen bewundert. Die Gastarbeiter erzählten im Urlaub ihren beeindruckten Familien von faszinierenden Resultaten dieser Tugenden: Die Busse in Deutschland fuhren pünktlich, die Krankenhäuser waren sauber, und vor Gericht bekam man sein Recht auch ohne Bestechungsgelder.

Diese alte deutsche Leitkultur wurde mit tatkräftiger Unterstützung der Alliierten um moralische Werte ergänzt: Rassismus und Antisemitismus galt es zu ächten und die Rechte des Individuums zu sichern. Angesichts der nicht abreißenden Skandale um Managerhonorare ist es heute schwer zu glauben, aber es entwickelte sich eine Ethik, in dem die Staatsbeamten als unbestechlich, die Handwerker als akkurat und die Selbstständigen als sozial verantwortlich galten.

Dieses Deutschland unterschied sich für uns Einwanderer so wohltuend von den Zuständen in unseren Herkunftsländern rund um das Mittelmeer, in denen Diktaturen herrschten, Korruption und Missachtung der Menschenrechte Alltag waren.

Die Eintrittsbedingungen in diese neue Welt lauteten seitens der Deutschen: Werdet wie wir, dann seid ihr willkommen. Fotos aus den Sechzigerjahren, wahllos bei Freunden gesammelt, zeigen das Ergebnis: Der Bauer aus dem anatolischen Dorf probiert Lodenmantel und Filzhut, die Fabrikarbeiterin aus dem sizilianischen Dorf trägt Minikleider – und geht zu Streikversammlungen ihrer Gewerkschaft. Und ich? Stand mit Schultüte auf dem Hof einer Bremer Schule und fand alles neu und aufregend.

Sicherlich, der oftmals unsichtbare, trotzdem ja spürbare Druck der Mehrheitsgesellschaft wurde von uns zuweilen als lästig, gar als Zumutung empfunden, meistens aber eher belächelt – oder bereitwillig als Ansporn genommen. So haben wir nicht nur Schwarzwälder Kirschtorten, Semmelknödel und Bratwürste lieben gelernt – und unseren neuen Landsleuten Kebab nahe gebracht. Wir wissen gleichfalls um die Vorzüge eines kostenlosen Bildungssystems, einer Krankenversicherung für alle und des Schutzes zuverlässiger Polizeibeamter.

Ganz anders Frankreich. Zwar gab und gibt es auch hier eine starke Leitkultur, aber der Ausbau des Sozialstaats hatte nicht das Ausmaß wie bei uns. Folge: Obgleich die Einwanderer rascher zu französischen Staatsbürgern wurden, kamen sie gesellschaftlich nicht weiter. Ergebnis: eine gespaltene Gesellschaft, in der Jugendliche ihren Frust immer wieder durch Randale Luft machen und sich demonstrativ in ethnische oder religiöse Subkulturen zurückziehen.

Die Niederlande verfolgten noch ein anderes Konzept. Lange Zeit war man hier stolz, keine Leitkultur zu vertreten. Toleranz und die Vorstellung, jeder solle nach seiner Vorstellung glücklich werden, führten zu einer Liberalität, die eher einem gleichgültigen Leben-und-Lebenlassen glich. Positiv war: Homosexuelle konnten unbehelligter leben, sanfte Drogen zu rauchen war nicht mehr kriminell, religiöse Überzeugungen konnten offen ausgelebt werden. Man war stolz auf eine Gesellschaft, in der zum Beispiel die Eltern über das Schulprofil bestimmten und der Staat sich aus Bildungsfragen weit gehend heraushielt.

Heute ist dieses Land in viele nebeneinander existierende Subkulturen auseinander gefallen. Kein Wunder, dass dort der Ruf nach einheitlichen Normen lauter wird. Deshalb finden Rechtspopulisten mehr Zulauf als in Deutschland.

In Großbritannien ist die Versäulung der Gesellschaft in voneinander abgeschottete Milieus ebenfalls weit fortgeschritten. Obwohl auch hier, ähnlich wie in Frankreich, eine starke Leitkultur vorhanden ist, ist diese jedoch nicht ausreichend mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit verknüpft. Gewalttätige Ausschreitungen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund aus den unteren sozialen Schichten gehören deshalb seit vielen Jahren zum Alltag.

Bewundert: ein Land, in dem Busse pünktlich fahren und Richter nicht korrupt sind

Zwar randalieren auch in Deutschland jährlich zum 1. Mai – in Berlin vor allem – türkisch-arabisch- oder polnischstämmige Jugendliche gemeinsam mit ihren deutschen Altersgenossen und verbrennen dabei zwei, drei Autos, aber das ist im Gegensatz zur Situation bei unseren Nachbarländern als traditionelles Gesellschaftsspiel zu werten, deren Regeln alle kennen.

In Deutschland gibt es keine Einwandererviertel, die sich vom Rest der Gesellschaft abgekoppelt haben. Kreuzberg und das Gallusviertel in Frankfurt sind nicht zu vergleichen mit entsprechenden Quartieren in Rotterdam, Bradford oder Marseille.

Das muss in Deutschland allerdings nicht so bleiben. In einer Zeit, da der Gedanke der sozialen Gerechtigkeit fast als anrüchig gilt, droht gleichzeitig die Abkehr von der Idee einer gemeinsamen Leitkultur aller – der Eingeborenen, der Einwanderer und jener, die noch zu uns kommen.

Es gibt Gruppen, die das Modell einer in Subkulturen geteilten Gesellschaft ohnehin bevorzugen. Zum Beispiel islamistische Gruppen, die nicht nur die pädagogischen Vorgaben des staatlichen Bildungssystems krass ablehnen und deshalb ihre Töchter vom Schwimmunterricht, dem Sexualkunde-Unterricht und von Klassenfahrten abmelden wollen.

Skeptisch machen mich auch Multikulturalisten und Globalisierungsgegner, die eine Abkopplung von den Normen der Mehrheitsgesellschaft als Befreiung vom Druck der dominierenden Ordnung feiern. Und schließlich sind mir feministisch verbrämte Argumente, die Toleranz gegenüber Lehrerinnen und Schülerinnen mit Burka einfordern, ein Gräuel.

Denn eine Leitkultur besteht nicht aus einem fest zementierter Kanon, sondern muss zu jedem Zeitpunkt neu verhandelt werden. Heute eben auch mit uns, den Eingewanderten. Die Idee der Chancengleichheit und einer Leitkultur muss verteidigt werden: Es ist unser Land.