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Archiv-Artikel

Iraks Zukunft hat schon begonnen

Heute vor einem Jahr fielen die ersten Bomben auf Bagdad. Seitdem ist der Alltag der Bevölkerung bestimmt von Anschlägen und der Suche nach neuer Normalität. Manche haben sich mit den US-Besatzern arrangiert, einige bekämpfen sie noch immer. Die politischen und wirtschaftlichen Perspektiven des Zweistromlandes sind nach wie vor völlig ungeklärt. Das taz-Dossier auf den SEITEN 3 bis 10

Ruft man sich die Ereignisse des 20. März 2003 ins Gedächtnis zurück, kommt einem unweigerlich ein Begriff in den Sinn: Weltkrieg. Und die Frage: Muss man nicht darüber nachdenken, einen Krieg, der fast niemanden auf dem Globus unberührt lässt, so zu nennen? Um 3.33 Uhr unserer Zeit fallen an diesem Tag die ersten Bomben, und weltweit erhebt sich noch einmal ein Sturm der Entrüstung gegen die Invasion der US-geführten Koalition im Irak. In San Francisco, Paris und London, in Berlin und Melbourne demonstrieren hunderttausende. Nachmittags dann kommen die ersten Meldungen von der Bodenoffensive. „Shock and awe“ – Schock und Furcht – mit dieser Strategie kämpft US-Präsident George W. Bush jetzt nicht nur im Irak, sondern auch weltweit an der Medienfront.

Bis zum 1. Mai 2003 werden die größeren Kampfhandlungen dauern, doch für viele ist dieser Krieg noch heute nicht beendet. Zwar sind aus den Invasoren Besatzer geworden, doch außer dem Sturz des Diktators Saddam Hussein haben die USA und ihre Verbündeten kein Kriegsziel erreicht. Die Existenz von Massenvernichtungswaffen hat sich als Schimäre entpuppt, noch immer gehen auf den Straßen von Kerbela bis Nadschaf Bomben hoch, und auch bis zu einer demokratischen Verfassung für den Irak ist es noch immer ein weiter Weg.

Dennoch: Der Krieg hat Realitäten geschaffen. Statt „Präventivschlagdoktrin“ und „Regimewechsel“ beherrschen ein Jahr später Schlagworte wie „Wiederaufbau“ und „Demokratisierung“ die Diskussion. Es sind auch die durchgehenden Themen des taz-Dossiers auf den folgenden Seiten: Nicht dem Blick zurück, sondern dem in die Zukunft gilt das Interesse unserer Autoren und Korrespondenten: Wie geht es weiter im Irak – nicht nur politisch, ökonomisch oder kulturell, auch was das Alltagsleben der Iraker angeht? Welche Lehren haben Kriegsbefürworter wie -gegner zu ziehen? „Jede Invasion hat positive Nebenwirkungen“, bringt es Noam Chomsky im Interview auf den Punkt. Die Iraker stimmen dem zu. Nach einer Umfrage des Instituts „Oxford Social Research“ sagen die meisten, es gehe ihnen besser als vor einem Jahr. Sie blicken optimistisch in die Zukunft. Eine Zukunft, in der sie sich den schnellen Abzug der Besatzer wünschen. Auch wenn Mickey Mouse bereits in Bagdad spazieren geht. JÖRN KABISCH