Die Adressaten auf der Ansichtskarte

Ein Treffen der Generationen: Die Ausstellung „Cremers Haufen“ konfrontiert Werke aus der Fluxus-Ära der Sechzigerjahre mit zeitgenössischer Kunst. Damit liefert das Westfälische Landesmuseum Münster einen wichtigen Beitrag zur kunsthistorischen Verortung gegenwärtiger künstlerischer Praktiken

Übers Material wurde einst der Alltag in die Kunst geholt; heute bleibt er außen vor

VON JENS KASTNER

Kendell Geers ist eine Flasche und Dieter Roth ein Schokoladenkopf. Mit den beiden Selbstporträts, hinter Glas wie Juwelen nebeneinander aufgebahrt, beginnt die aktuelle Ausstellung im Westfälischen Landesmuseum. Die Schokobüste Roths, in den Sechzigerjahren noch provokante Materialerprobung, gehört mittlerweile zu den Ikonen der Moderne. Der abgebrochene Flaschenhals einer Heineken-Bierflasche, den Geers in die Vitrine hat legen lassen, hat die auf seine Stofflichkeit bezogene Beweislast längst abgeschüttelt. Einschneidend sind hier vielmehr die biografischen Inhalte, der postkoloniale Background des Autors („Imported from Holland“) und die alltägliche Gewalt seiner Gesellschaft.

Diese Gegenüber- oder Nebeneinanderstellung ist der paradigmatische Auftakt einer Ausstellung, die sich nicht damit begnügt, eine alte Sammlung in neuem Glanz zu präsentieren. Als Dauerleihgabe bereits von 1973 bis 1993 in Münster sind die Werke aus dem Bestand Siegfried Cremers in der gegenwärtigen Schau konfrontiert mit zeitgenössischer Kunst. Das ist plausibel, wird damit doch dem antimusealen Anspruch der zumeist im Kontext der Fluxus-Bewegung entstandenen Werke zumindest auf organisatorischer Ebene Rechnung getragen. Und spannend ist es obendrein, veranschaulicht das Konzept der Kuratorin Maïté Vissault doch die Verschiebungen von künstlerischen Strategien bezüglich der zentralen Frage ihrer eigenen Grenzen: Alltag, Prozesse und Handlungen sind die Bereiche, in die die Kunst in den Sechzigerjahren überführt werden sollte.

Deshalb gibt es Räume in dieser Ausstellung, die mit „Kunst gleich Leben“, „Reise“ oder „Haushalt“ überschrieben sind und in denen das arrangierte Treffen der Generation als Konfrontation funktioniert. Wurde der Alltag vor vierzig Jahren vor allem über Materialien – Fett, Filz, Essensreste usw. – in die Kunst geholt, so bleibt er heute doch wieder eher draußen oder hält nur in homöopathischen Dosen Einzug in das Werksgeschehen. Die auf dem Trödel gekauften Ansichtskarten, die Kirsten Pieroth an willkürlich ausgewählte Adressen in den abgebildeten Orten versandt hat mit der Bitte, sie ihr zurückzuschicken, reiht sich ein in die postalen Kunstpraxen der Sechzigerjahre, weist sich aber durch das fehlende Pathos als luzide Gegenwartskunst aus.

Die direkten Gegenüberstellungen, etwa der Filmarbeiten von Marcel Broodhears („Der Regen, 1969“) und Tacita Deans („Das grüne Licht“, 2002), gehen hingegen oft zugunsten der Sechzigerjahre-Kunst aus, deren plumpes Anstoßnehmen an der Realität immer noch mehr Reibungsfläche bietet als der seichte Blick auf sie.

Aber es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten. Clemens von Wedemeyer zum Beispiel glaubte – um mit Deleuze zu sprechen – nicht nur, Gefangene zu sehen, sondern machte mit ihnen einen Film („Big Business“, 2002). In einem Laurel & Hardy-Remake zerstören schauspielernde Knackis ein selbst gebautes Haus, während andererseits ein – polizeilich sichergestelltes – Auto zu Schrott gehauen wird. Das im Gefängnis gefilmte Geschehen macht Strukturen des Handels ebenso deutlich wie solche von Überwachen und Strafen, Produktion und Zerstörung. Die Jahrzehnte zuvor aufgeschlitzte Leinwand von Lucio Fontana wirkt dagegen nicht mal mehr zweidimensional.

Hier wird also keine simplifizierende Entgegensetzung von „politisch-realistischer“ Sechzigerjahre-Kunst auf der einen und einer eher biografischen und ästhetischen Kriterien zugeneigten Gegenwartskunst auf der anderen Seite vorgenommen. Die Arbeiten der 55 vertretenen KünstlerInnen – neben Klassikern wie Beuys und Roth sowie Stars der Gegenwartskunst wie Rosemarie Trockel und Isa Genzken auch jüngere und unbekanntere – machen unterschiedliche Strategien ebenso deutlich wie Kontinuitäten und Anknüpfungspunkte.

Schade allerdings ist, dass gerade die Abteilung „Kunst und die Straße“ so dünn und zeitdiagnostisch höchst fragwürdig ausfällt. Als gäbe es heute weder soziale Bewegungen gegen die Globalisierung noch explizit politische Kunst, wird hier behauptet, kämpferische Proteste seien durch subtile Kommunikationsstrategien abgelöst worden. Wenn hier nicht die sozialdemokratischen Agitprop-Plakate von Klaus Staeck als Abgrenzungsfolien hätten herhalten müssen, hätte mit Sicherheit subtiler Politaktionismus von damals einerseits und seine soziale wie ästhetische Relevanz heutzutage deutlicher herausgearbeitet werden können.

Dass die in den Sechzigerjahren produzierten Haufen doch mehr sind, als ein empörter Westfale auf die Einladung zur Eröffnung in einer E-Mail an das Museum kundtat – nämlich das, was er einmal im Jahr beim Hausputz ins Werk setzen würde –, das ist nicht neu. Inwiefern sich jene Arbeiten aber als wegweisend im künstlerischen Feld und über seine Ränder hinaus erwiesen, kann die in Münster gezeigte Zusammenschau in besonderer Weise veranschaulichen. Insofern hat das für zeitgenössische Kunst nicht eben berühmte Westfälische Landesmuseum mit der Ausstellung „Cremers Haufen“ einen wichtigen Beitrag zur (kunst-)historischen Verortung gegenwärtiger künstlerischer Praktiken geliefert.

„cremers haufen. alltag. prozesse. handlungen: kunst der 60er jahre“. Bis 5. Mai, Westfälisches Landesmuseum Münster