piwik no script img

Archiv-Artikel

Wider das wohlige Gruseln

Wenn es um die so genannten Problemkieze geht, lieben Journalisten es einfach: Das Szenario des „unregierbaren Gettos“ im Wedding verkauft sich eben besser als eine differenzierte Betrachtung. Doch diese ist dringend notwendig. Ein Plädoyer

Die Darstellung einer in Graustufen gezeichneten Realität ist nicht „sexy“ genug

VON OLAF SCHNUR

Nur keine Irritationen! Das denken sich wohl viele JournalistInnen und PolitikerInnen, wenn sie sich immer wieder mit bestimmten Vierteln innerhalb der Großstädte befassen (müssen): „Problemkieze“ heißen diese mittlerweile in Berlin. Jeder weiß gleich, was damit gemeint sein muss. Als „Gettos“, „Slums“ oder „No-go-Areas“ werden sie auch manchmal bezeichnet – oder man warnt (wie vor kurzem Innensenator Ehrhart Körting) davor, dass diesen Arealen eine solche Abwärtskarriere bevorstehen könnte. Das löst ebenso Unmut wie Kopfnicken bei einigen Leuten aus, die im so genannten Getto leben. Anderen, die nicht dort leben, beschert die Lektüre ein wohliges Gruseln. Eigentlich haben es ohnehin alle schon gewusst, weswegen solche Attribute auch niemanden besonders überraschen – ein Konsens in der Differenz sozusagen.

„Differenz“ ist das Stichwort, denn allein die Titulierung von Gebieten als „problematisch“ (oder: als „sozialer Brennpunkt“, „gefährlich“ oder „unregierbar“ etc.) sorgt unwillkürlich für eine binäre Assoziation: Wenn Problemviertel existieren, dann muss es automatisch auch das Gegenteil geben. Nichts liegt näher, als diesen Zuschreibungen auch Wertungen zu verpassen. Was gut ist und was schlecht, liegt dann ja auf der Hand. Auf der einen Seite die urbane Apokalypse (zumindest drohend), auf der anderen Seite das bürgerliche, auf jeden Fall unproblematische Idyll.

Differenztheoretische Betrachtungen sind das eine. Polarisierende Diskurse jedoch wirken bis in die reale Alltagswelt, vor allem wenn sie sich beinahe mantrahaft in Massenmedien wiederholen. Mit abschreckenden Kiezberichten könnte man allein für Berlin ein ganzes Buch herausgeben. Die Artikel haben zudem auch noch System: Oft werden subjektive Meinungen und Erfahrungen einzelner InterviewpartnerInnen zur Allgemeingültigkeit erhoben und unkommentiert wiedergegeben, sodass AutorInnen sich stets gut aus der Affäre ziehen können. In einem Artikel zur Soldiner Straße im Wedding wurden kürzlich „Neger“, „Fidschis“ und „das ganze Arabervolk“ diskutiert – im Kontext unkommentierter BewohnerInnenzitate.

Dass der Kiez ein „Getto“ und das Gegenteil von „Zivilisation“ ist (die gibt es laut zitierter Bewohneraussage nämlich in Pankow), versteht sich von selbst. Geschickt werden negative Attribute eingestreut: Spielhöllen, illegaler Handel mit Handys, natürlich Haschisch, Heroin und Jugendbanden etc. Dadurch wird mühelos ein stigmatisierendes, von ausgewählten BewohnerInnen sogar abgesegnetes Bild eines Kiezes erzeugt.

Es geht aber auch noch weniger subtil. „Abartig wie Kabul“ schrieb die Welt vor einigen Jahren offen über das Kreuzberger SO 36, und der Spiegel-Artikel „Endstation Neukölln“ hat immerhin einige Berühmtheit erlangt als Beispiel für eine Reportage, wie sie nicht sein soll.

Deshalb ist eine Refokussierung auf die tatsächlich wahrnehmbaren Alltagsrealitäten wichtig. Wir verbannen die Diskurse also einmal in die Diskursecke. Die Realität von Stadtvierteln – und dazu bedarf es eigentlich keiner längeren Reflexion – ist natürlich keine „binäre“ Angelegenheit, sondern eine „kontinuierliche“. Wir haben es sowohl mit räumlichen als auch mit zeitlichen Verläufen zu tun. Ebenso wenig wie „unproblematische“ Viertel gänzlich unproblematisch sind, zeichnen sich „problematische“ Quartiere in erster Linie durch Probleme aus.

Überall existieren Defizite (städtebaulich, sozial, ökonomisch etc.) und Potenziale, nur ist die Verteilung der Ressourcen unterschiedlich günstig, was dann zu den plakativen Quartiersbezeichnungen führt. Führt man noch eine weitere Kategorie ein, nämlich die der Kapitalarten (u. a. nach Bourdieu), wird das Mosaik der Kiezressourcen noch deutlicher. Das „physische“ Kapital tritt in Form von Geld, Immobilienbesitz etc. auf, mit dem kulturellen Kapital (andere Wissenschaftler sprechen auch von Humankapital) ist insbesondere Bildung gemeint. und das soziale Kapital bezeichnet etwa Ressourcen aus sozialen Netzwerken, aus Vertrauensverhältnissen, aus gegenseitigen Verpflichtungen und Erwartungen etc.

Jeder Mensch verfügt über diese drei Kapitalarten, nur eben in unterschiedlicher Zusammensetzung. Die individuelle „Kapitalausstattung“ bestimmt sehr stark den Alltag und die Lebenswelt der Menschen. In problematischen wie in unproblematischen Quartieren wohnen Menschen mit stark unterschiedlicher „Kapitalausstattung“ (und damit ist hier eben nicht nur „Geld“ gemeint), die deshalb über andere Handlungsspielräume verfügen. In der Summe entstehen so mehr oder weniger geringe oder große „soziale Quartierspotenziale“ (die Frage sei an dieser Stelle erlaubt: Ist ein geringes Potenzial automatisch ein Defizit?).

Eines wird dabei jedenfalls schnell deutlich: Sowohl in einem „Problemkiez“ als auch in einem „Nichtproblemkiez“ dürfte die Bandbreite von BewohnerInnen mit unterschiedlichen Möglichkeiten enorm sein, wenn auch bestimmte „Typen“ im einen Fall häufiger auftreten werden als im anderen. Die „Problemkiez“-Grenze fällt jedoch wie eine Guillotine von außen über das Quartier: als „gefährlicher Ort“ der Polizei, als „Quartiersmanagementgebiet“ der Verwaltung, als Kategorie in den Medien etc. Diese Grenze signalisiert einen Defizitraum, ein Innen und ein Außen, Beherrschbarkeit und vor allem eine mögliche Gefahr bei Grenzüberschreitung. Sie wird der Stadtteilrealität nirgendwo gerecht.

Dazu kommt noch eine weitere sehr wichtige und oft übersehene Qualität von sozialen Räumen: Die unterschiedlichen individuellen Ressourcen sind auch innerhalb der Quartiere in irgendeiner Form räumlich verteilt (von konzentriert bis gleichmäßig verstreut), was oft zu einer „Kleinräumigkeit“ von Defiziten und Potenzialen führt.

Innerhalb von „Problemkiezen“ gibt es häufig „Probleminseln“. Zwischen den Probleminseln existieren unproblematische Areale, die aber unter den Probleminseln leiden. Indem man die unproblematischen Kiezareale innerhalb der „Problemquartiere“ pauschal mit in Sippenhaft nimmt, erzeugt man eine lokale Fluchtatmosphäre – wer will schon zum Teil eines Problems werden?

Wegzüge sind die Folge. Und zwar selektive Wegzüge derjenigen, welche über eine günstigere Kapitalausstattung verfügen und das Leben in den Quartieren sozial und ökonomisch stabilisieren. Dadurch werden die Inseln tendenziell größer und damit verschärfen sich auch die tatsächlichen Probleme. Genau der gegenteilige Effekt ist in den „Nichtproblemquartieren“ zu erkennen: Zwar gibt es auch dort „problematische“ Ecken, diese werden aber pauschal in der klischeehaften Ordentlichkeit nivelliert und dadurch viel weniger wahrgenommen.

In wissenschaftlichen Untersuchungen (u. a. des Geographischen Instituts der Berliner Humboldt-Universität) wurden neben den bekannten Quartiersdefiziten (diese sollen hier keineswegs verniedlicht werden) auch Quartierspotenziale nachgewiesen. Gerade auch „problematische“ Quartiere weisen oft eine überraschend große Kiezbindung (trotz der offenkundigen Probleme), intensive Nachbarschaftskontakte (trotz der vermuteten Anonymität), eine verbreitete, große Bereitschaft zum freiwilligen Engagement (zum Teil auch wegen der Probleme) und insgesamt ein hohes Volumen an sozialem Kapital auf. Gerade die nichtdeutschen BewohnerInnen tragen zu diesem Kiez-Kapital in nicht unbeträchtlichem Maß bei – all dies ist auch ein Teil der Kiez-Realität.

Ein Blick auf Potenziale statt nur auf Defizite könnte uns vor einer weiteren folgenreichen „Gettoisierung in den Köpfen“ bewahren. Wo bleibt also die vollständige Realität in der Diskussion und Berichterstattung über „Problemkieze“? Vielleicht ist die Darstellung einer ausgewogenen (in differenzierteren Graustufen gezeichneten) Realität nicht „sexy“ genug. Vermutlich steckt eine Mischung aus sensationslüsterner Medienhysterie, naiver Ignoranz und medialer Stadtentwicklungspolitik dahinter.

Vielleicht handelt es sich aber bei der Berichterstattung auch schon um die Realität selbst. Das sozialwissenschaftliche Thomas-Theorem behauptet, dass Situationen und deren Folgen immer schon dann als real angesehen werden können, wenn die Menschen diese Situationen für sich als real definieren – unabhängig von den tatsächlichen Rahmenbedingungen. Zeitungen und öffentliche Meinungsträger helfen tatkräftig bei der Definition. Der Kiez gilt schon immer als ein verwahrlostes, kriminelles Getto? Und es wird immer schlimmer? Dann nichts wie weg!

Am Ende wird dann vielleicht auch der problematischste aller Zustände erreicht. Die Medien werden es als erste gewusst haben. Und die Paranoia wird kalifornisches Niveau erreichen: Vom Regierungsviertel im Auto ins Eigenheim nach Reinickendorf? Entweder man nimmt den direkten Weg (zentralverriegelt und mit feuchten Händen) oder man muss eben die sozialen Brennpunkte im Wedding weiträumig umfahren.

Olaf Schnur ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Humboldt-Universität. Er schrieb seine Dissertation über „Lokales Sozialkapital und urbane Regulationsformen am Beispiel von vier Wohnquartieren in Berlin-Moabit“.