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Archiv-Artikel

Russische Welt in Wachs

Galeristin Vollstädt versteht die Aufregung um die Nachbildung von Adolf Hitler nicht. Sie findet, der Diktator gehöre in ein Wachsfigurenkabinett. In diesem hat sie sich ihr kleines Russland nachgebaut

VON SERGE SEKHUIS

Inna Vollstädt schaut auf Josef Stalin. Dieser Mann hat ihre Verwandten nach Sibirien verbannt. Ihren Onkel zum Beispiel, den Schauspieler Georgi Gheghenov. Der verbrachte dank Stalins Geheimdienstchef Lawrenti Beria die schönste Jahre seines Lebens im Arbeitslager.

Jetzt gehören beide ihr. Stalin und Beria. Sie kann sie jeden Tag beschimpfen und ihnen ihre Gräueltaten vorhalten. Nur spucken darf sie nicht, auch wenn ihr danach ist. Das könnte die empfindliche Wachshaut der Exponate beschädigen.

Und viel Zeit hat sie auch nicht mehr, muss sie doch ihre Galerie räumen. Schon bald. Die Eigentümerin hat ihr den Mietvertrag gekündigt (siehe unten). Doch noch gehört Inna Vollstädt das einzige Wachfigurenkabinett in Berlin in der Friedrichstraße, direkt am Checkpoint Charlie – Besucher ließ sie allerdings gestern schon nicht mehr hinein.

Hitler stand auch da. Ein leichtes Lächeln um den Mund, das Schnurrbärtchen etwas zu lang, die Jacke zu groß, die Haare zerzaust. Aber jeder erkennt ihn, den Diktator, der sechs Millionen Juden auf dem Gewissen hat.

„Darf Hilter am Checkpoint Charlie stehen?“, fragte Bild am Freitag und schrieb von einer Aufregung, die es darum gebe. Die Aufregung kam erst nach der Veröffentlichung. Am Samstag konnte das Springer-Blatt den ersten Erfolg melden: Vollstädt entfernt Hitler aus der Ausstellung. Gestern meldete es Vollzug: Vollstädt muss ihr erst im Januar eröffnetes Kabinett schließen.

Inna Vollstädt versteht das nicht. Hilter gehört zu einem Wachsfigurenkabinett einfach dazu, sagt sie. In Madame Tussaud’s in London stehe er doch auch. Die Engländer sind sowieso sehr schnell damit, ihre Sammlung zu aktualisieren, sagt sie: „Die hatten ihren Hitler schon, als er noch lebte – wie jetzt Saddam Hussein und Ussama Bin Laden.“ Bis Freitag hat sich niemand aufgeregt.

Auch nicht über Erich Honecker. Der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR steht am Fenster und schaut auf die Touristen am Checkpoint Charlie. Wie Stalin und Hitler wirkt auch Honecker in Wachs recht freundlich. Rosafarbenes Gesicht, frischer Blick, gepflegt gekämmtes graues Haar und sozialistische Hornbrille. Die rechte Hand erhoben: Liebe Genossen, hier ist die Mauer, keinen Schritt weiter. Die Besucher lassen sich gern mit ihm fotografieren. „Er hat doch nur gemacht, was er musste, was Partei und Volk von ihm erwartet haben“, sagt Vollstädt.

Sie zeigt auf Stalin. „Das hier sind die wahren Schuldigen an der Teilung Deutschlands.“ Stalin sitzt neben dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt und dem englischen Kriegspremier Churchill. „So wie auf der Konferenz von Teheran, wo sie über Deutschlands Zukunft nach Hitler entschieden haben.“

Die russische Sicht der Dinge ist Vollstädt näher als die deutsche, obwohl sie ihr halbes Leben in der DDR verbracht hat. Geboren wurde sie in Sankt Petersburg, sie heiratete einen Deutschen und zog mit ihm in die DDR. In Dresden lernte sie die sozialistische Kunst kennen, organisierte Ausstellungen und warb für die Schönheit russischer Kunst.

Alle Figuren in ihrem Kabinett kommen aus Sankt Petersburg. Einige sind Leihgaben, von anderen wurden neue Abgüsse gemacht. Siebzig Figuren stehen in ihrer „Galerie Artel“. Für vier Euro Eintritt gibt es beileibe nicht nur die Tyrannen der Welt: Leonardo da Vinci, Michelangelo und Shakespeare in einem Raum. Lola Ferrari mit ihrem Riesenbusen in einem anderen. Dennoch: Die Abteilung Politik und Zeitgeschichte ist die größte. Neben Hitler und Honecker stehen hier ein junger Michail Gorbatschow neben Wladimir Putin, und Lenin ebenso wie Anatoli Sobtschak, der erste Bürgemeister von Sankt Petersburg nach der Perestroika. In einem weiteren Raum sieht man sämtliche russischen Zaren.

Russland ist die Welt von Inna Vollstädt. In ihrem Kabinett hat sie sich einen Teil davon nachgebaut. Sie treibt die Sehnsucht nach Sankt Petersburg, sagt sie. Hitler ist da nur die Pflicht, die ein Wachfigurenkabinett liefern muss. Nicht mehr.