: Wir sind alle Kandidaten
Von der alteuropäischen Operettenpolitik zur neueuropäischen Intensitätsformel einer musikalischen Votingshow – die kommende Weltmacht, wie sie singt und lacht oder Die Geburt Europas aus dem Geiste der Grand-Prix-Musik
von JAN ENGELMANN
Das Prozedere ist sattsam bekannt. Länder schicken ihre Vertreter an einen Versammlungsort, dort hört man gelangweilt Vorträgen zu, um danach die Voten abzugeben. Das Abstimmungsergebnis wird pflichtschuldig beklatscht als starkes Symbol für die Einheit Europas. Alle Jahre wieder gibt es Gerüchte über bilaterale Absprachen und systematischen Stimmentausch. Es heißt dann etwa, die Griechen hätten mit den Zyprioten gemauschelt, ebenso wie untereinander die Skandinavier. Da kann man eben nichts machen – ihr wohlverstandenes Eigeninteresse würde ohnehin niemand in Frage stellen.
Der Grand Prix Eurovision ist – wie auch im Schlagerfachblatt taz schon bemerkt wurde – die vermutlich beste Allegorie auf die Europäische Union, die sich finden lässt. Der übliche Schacher und das Kompetenzgerangel finden sich hier ebenso verkörpert wie nachbarschaftlicher Klüngel und die Verweigerung von Anerkennung. Die jeweiligen Ambitionen auf der Weltbühne werden auch am 24. Mai in der Skonto Halle zu Riga wieder ein kongeniales Forum finden. Grand Prix ist, jeder weiß es, die Fortsetzung von Außenpolitik mit anderen Mitteln.
Und wie jene tut die traditionsreiche Votingshow sich schwer, neue Usancen für die Erweiterung Europas zu finden. Die seit 1956 (dem Jahr der Verhandlungen über die Römischen Verträge) geltenden Regeln sind zuletzt 1999 modifiziert worden. Damals wurde der Vorsprung der Exekutive, der im Initiativrecht einer niemals ganz unverdächtigen Jury bestand, zugunsten einer stärker plebiszitären Ausrichtung mittels TED zurückgedrängt. Gebracht hat es eigentlich nichts. Denn auch das gemeine Wahlvolk lässt sich bereitwillig korrumpieren, solange ihm eine bessere Zukunft („Guildo hat euch lieb“) oder mindestens die Einhaltung wohlfahrtsstaatlicher Leistungsstandards („Wadde hadde dude da“) in Aussicht gestellt werden.
Der wirklich harte institutionelle Schnitt steht erst 2004 ins Haus. Dann nämlich erhalten alle Länder, die dies wünschen, einen offiziellen Kandidatenstatus – selbst die bestenfalls als Anrainer zu bezeichnenden Maghrebstaaten oder die schon fußballerisch auffällig gewordenen Exoten Faröer Inseln und San Marino. Wie der Soundclash sich dann zu einer gruseligen Kakophonie auswachsen dürfte, gegen den die Abstimmungsprozesse im Europäischen Rat eine Schröder’sche Basta-Idylle darstellen, das will sich heute noch niemand vorstellen.
Für jedermann offensichtlich hingegen ist der artifizielle Charakter der musikpolitischen Zwillingsveranstaltung „Euro-Vision“. Die unmerkliche Bearbeitung momentaner Stimmungen (z. B. durch Applausreduktion, Schnitttechnik), die für den European Song Contest nachgewiesen wurde, steht auch bei den administrativen Vorkehrungen dafür, wohin sich Europa in den nächsten Jahren bewegt. Eben noch negativ gegen sein nordamerikanisches „Anderes“ gepolt, soll die trotzige Gestimmtheit gleich wieder in eine rundum positive Einstellung gegenüber einer Gemeinschaft umschlagen, die den Zeitenwechsel im Sinne Bob Dylans als supranationalen Konsenshit begreift. Die Litauer haben es zuletzt vorgemacht, nun durften auch die Slowaken ähnlich eindrucksvoll dem Wandel beipflichten. Im Vorfeld gab es dort zwar ein bisschen Ärger um einen nicht lizensierten Schlagertext, den man für die Europa-Hymne verwendete, aber die Wettbewerbshüter – siehe auch die verbotenen Mitschnitte der Dänen – werden es ihnen sicherlich nachsehen.
Viel deutlicher noch als diese theatralischen Inszenierungen einer „Europhorie“ haben die Sticheleien beim Treffen des „Weimarer Dreiecks“ gezeigt, dass die alteuropäische Operettenpolitik sich wohl ein neues Libretto suchen muss. Schon die koketten Gedankenexperimente mit einer „eurasischen“ Achse als Reaktion auf den forschen „Brief der acht“ sowie der „Pralinengipfel“ waren klare Signale dafür, dass die Aufklärung über gewisse Fragen dringend geboten erscheint: Sind die Vorsänger der vereinigten Misstöner von Europa wirklich dazu bereit, den frechen Newcomern aus Osteuropa eine faire Chance einzuräumen (Modell Karel Gott)? Werden sie nicht zwangsläufig auf ihr angestammtes Recht pochen, die Leitmotive der Melodien für Millionen vorzugeben (Modell Ralph Siegel)? Oder werden die Brüsseler Technokraten einmal mehr jene widerstreitenden „Euro-Visionen“ nach der anfangs noch nationalstaatlichen Imprägnierung zu einem Minimalkonsens zu verschmelzen wissen (Modell Vicky Leandros)?
Es fällt zunehmend schwer, daran zu glauben. Die Gefühlslage der Europäer hat immer auch etwas von einem manisch-depressiven Patienten, der gegenwärtig zwischen Post-Saddam-Blues und enervierender Stimmungsmucke changiert. Es braucht keine therapeutischen Fähigkeiten, um zu erspüren, dass der Riss, der seit der falschen Alternative von Pro- und Antiamerikanismus durch die Mitgliedsländer geht, nicht durch schnelle Kuren geheilt werden kann. Prämiert wird in einem System der blocklosen Konfrontation eben nicht mehr der einfallslose Plagiator, sondern derjenige, der seine begrenzten Möglichkeiten richtig einschätzt – und dann aber mit einem Paukenschlag der internationalen Öffentlichkeit zu Gehör bringt. Doch anstatt für die zukünftigen Herausforderungen ordentlich zu trommeln, kungelt man die Dinge entweder im Reformkonvent aus oder verschweigt sie lieber ganz.
Entsprechend überwiegt auf der medialen Bühne nicht etwa die Sorge um eine schleichende Entmachtung des EU-Parlaments, sondern das wispernde Interesse für das Personal, das die neu-alte Institutionentroika bespielen soll. Joschka Fischer, von seinen Fans mit einer niedrigen Startnummer (normalerweise eine schlechte Voraussetzung!) ins Rennen geschickt, scheint dabei genau jene Merkmale aufzuweisen, die auch beim Grand Prix von jeher Erfolg garantieren: smart, aber nicht zu kopflastig; dick aufgetragen, aber nicht zu pathetisch; eben ein massenkompatibler Gemütsmensch, dem man seine am Reißbrett entstandenen Harmonien nicht anmerkt.
Im östlichsten Winkel Kerneuropas, der Berliner Volksbühne, stritt man neulich über mögliche Gegenentwürfe zum schal gewordenen Politikrefrain „Westen“ und schien zumindest darin übereinzustimmen, dass Europa zwar nicht essenziell zu greifen, aber über sein vollendetes System der Konkurrenzen sehr gut beschreibbar ist. Peter Sloterdijk sorgte sich vor allem um die „Dynamik der Enthemmung“, welche die transatlantischen Beziehungen erfasst habe. Man müsse Europa wohl als eine „dramaturgische Größe“ begreifen, die nach dem fröhlichen Verjuxen der Friedensdividende nach 1945 nun wieder in einer depressiven Phase angelangt sei.
Das Urteil kam aus berufenem Munde. Anlässlich Donald Rumsfelds Spaltungsversuch hatte Sloterdijk den USA einen „Realinfantilismus“ vorgeworfen und sich an einer Ehrenrettung von Europas postheroischer Lebenskunst versucht. Dabei fällt auf, dass derselbe Autor vor gut einem Jahrzehnt, als die neue Weltordnung allenfalls deklaratorisch existierte, noch den alten Kontinent für seine Kindereien schalt. In seinem Essay „Falls Europa erwacht“ von 1994, das unverkennbar vom Realitätsschock der Balkankriege motiviert war, behandelt Sloterdijk die Folgen des psychopolitischen Hohlraums im Zeitalter der „Vakuum-Ideologie“. Das vorherrschende Gefühl der Europäer, „bodenlos“ zu sein (nicht umsonst nannte auch der damals gern gelesene Vilém Flusser so seine philosophische Autobiografie), hätte einen unstillbaren Erlebnishunger und Spaßkonsumismus hervorgebracht. Statt sich die Bereitschaft zur politischen Fantasie wieder anzueignen, begnügten sich die Europäer weitgehend mit frivolen Ersatzhandlungen: „Optionen, Launen, Präferenzen müssen genügen, um den Einzelheiten ihren Sitz im Sein zu geben.“
Es fehlte nicht viel, und Sloterdijk hätte diesen „Sitz im Sein“ an jenen Couch Potatoes festgemacht, die eine absurd in die Länge gezogene Punktevergabe als unterhaltsames Politikderivat zelebrieren. Diejenige „Euro-Vision“, die uns am Samstag wieder ins Haus steht, fügt sich nämlich sehr gut in seine These, das europäische „Selbstintensivierungsprogramm“ sei im Grunde unverwüstlich, weil es den Maximierungswillen kühner Abenteurer – Cortéz, Napoleon, Bohlen ff. – als Antrieb nie ganz ablegen könne.
So gesehen wäre der Grand Prix nur ein weiteres „Großexperiment des Wettlebens, Wettproduzierens, Wettgenießens“ in jener langen Reihe von Intensivierungsprojekten, mit denen die Europäer ihren dritten Weg zwischen sozialistischer Langeweile und kapitalistischer Dauerbeanspruchung beschreiten. Entgegen dem tief verinnerlichten Zwang zur großen Geopolitik, der die USA zu anstrengenden Befriedungsmissionen nötigt, zähmt Europa seine Erregung gewissermaßen selbst, im Vertrauen auf die vergnügliche Schlagkraft der Dressuren. Als anstiftendes Ziel dieser weitgehend ironischen Autodisziplinierung darf gelten: Ein bisschen Frieden.
Doch schon die Songtitel vom 24. Mai verraten neues Ungemach. Während sich die Deutschen in vogelwilder Selbsthypnose angesichts ihres Haushaltsdefizits üben („Let’s get happy“), wedeln die Österreicher bereits streng mit dem Verschuldungskriterium des Stabilitätspakts („Weil der Mensch zählt“). Wo die Norweger ein arrogant-isolationistisches „I’m not afraid to move on“ nach Riga schicken, fleht der rumänische Beitrag, seines prekären Kandidatenstatus gewiss, um nachsichtige Behandlung: „Don’t break my heart“. Und bevor die britischen Kriegsgewinnler den Gefolgschaftsverweigerern noch ein schnödes „Cry Baby“ hinterherrufen können, haben sich die Letten mit „Hello from Mars“ schon von der Venushaftigkeit europäischer Außen- und Sicherheitspolitik verabschiedet. Man sagt, Lieder können eine Brücke sein. Manchmal sind sie es nicht.