: 24 Stunden in einer Stadt, die ab und zu ein schlechtes Gewissen macht
Besuch ist da, erwartungsfroh und berstend vor Tatendrang, ein ganzes Wochenende Hauptstadt will gefüllt sein. Die Angereisten sitzen am Frühstückstisch und erzählen dem Berliner, was los ist in dessen Stadt – welche Ausstellung muss nachmittags sein, wo sich danach in die Sonne legen, in welchen Club dann später? Das ist einer der Momente, in dem einem die Stadt, in der man lebt, ein schlechtes Gewissen macht. Hier passiert viel, zu viel – und das Schlimmste ist: Alle wissen das.
Dem Besuch sei Erik-Jan Ouwerkerks Fotoband „Berlin 24 h“ anempfohlen. Der freie Fotograf, der seit 1988 in Berlin lebt und auch für die taz arbeitet, hat in seinem Buch einen Tag Berlin dokumentiert: alle 15 Minuten ein Bild, von Mitternacht bis Mitternacht, eine Stadt im Viertelstundentakt. Ouwerkerk führt den Betrachter durch einige Dutzend der ungezählten Parallelwelten Berlins – vom beschaulichen Mitternachtspicknick im Lustgarten zum rasenden Fest im Sage Club, von der Tristesse des Berufsverkehrs am Ostkreuz auf den Streetball-Platz an der Oberbaumbrücke.
Alle Texte sind viersprachig gehalten und also auf Touristen zugeschnitten, was das Vorwort keineswegs verhehlt. Doch sind die Bildunterschriften Nebensache, das Buch eines Fotografen spricht durch seine Bilder. Zugegeben, einige der Szenen kann man sich gut auf Postkarten vorstellen, die Siegessäule bei Nacht etwa oder die erleuchtete Weltzeituhr. Doch die meisten fangen – abseits hauptstädtischer Symbole – Alltag ein und öffnen so eine erstaunlich intime Ansicht der Stadt.
Das Paar an der Nachttankstelle sitzt ganz bei sich zusammen – ausgerechnet an dem Ort, der ständige Mobilität verheißt, vom An- und Abfahren lebt. Ein Mann döst in der Sonne, ein paar Meter weiter rasen Züge vorbei. Es sind solche Gegensätze, die Tage in dieser Stadt lebenswert machen.
Den Besuch lässt man dann am besten alleine laufen. Sollen sie selbst herausfinden, was Berlin so „spannend“ macht, wie es Reiseführer nicht müde werden zu schreiben. Zeit zum Reden wird sich finden – spätestens an der Nachttankstelle. US
Erik-Jan Ouwerkerk: „Berlin in 24 h“. Nicolai Verlag. Das Buch gibt es ab morgen im Handel. Es kostet 14,90 €