: „Der Tod von Scheich Jassin stärkt und radikalisiert Hamas“, sagt Muin Rabbani
Scharon setzt auf Gegenterror. Doch die Idee, Hamas militärisch zu eliminieren, ist nichts als ein Trugbild
taz: Herr Rabbani, warum hat Ariel Scharon Scheich Jassin ermorden lassen?
Muin Rabbani: Scheich Jassin lebte nicht im Untergrund. Im September gab es schon ein Attentat auf ihn - es war also kein großes logistisches Problem, ihn zu treffen. Interessant ist weniger das Motiv Israels – entscheidend ist der Zeitpunkt.
Warum also die Tat jetzt?
Scharon diskutiert derzeit das Konzept eines einseitigen Rückzugs aus dem Gaza-Streifen. Die Details dieses Planes sind unklar. Wir wissen nicht, welche Teile des Gaza-Streifens gemeint sind, wir wissen nicht, wie ernst es Scharon meint. Aber Fakt ist: Wenn sich Israel aus Gaza zurückzieht, dann will Scharon, dass die Palästinenser in Gaza keine starke Führung besitzen.
Das zweite Motiv hat mehr mit Israel selbst zu tun. Wir erinnern uns an den israelischen Rückzug aus dem Südlibanon und den verbreiteten Eindruck, die israelische Armee sei unter Feuer von dort geflohen. Falls Hamas einen israelischen Rückzug als ihren Sieg verbuchen könnte, wäre das für Scharons interne Position äußerst schädlich. Er will den Israelis ja zeigen, dass er sich aus einer Position der Stärke zurückzieht. Außerdem will er den Palästinensern zeigen, dass er sie jederzeit an jedem Ort treffen kann.
Nehmen wir mal an, Scharons Motive wären legitim – ist seine Politik effektiv?
Ja und nein. Die Ermordung Jassins schwächt auf den ersten Blick die palästinensische Führung. Zusätzlich vermittelt diese Aktion den israelischen Bürgern den Eindruck, dass sie in einem starken Staat leben. Aber das sind mehr symbolische politische Gewinne. Israels strategischem Ziel, Hamas Einhalt zu gebieten, nutzt diese Tat hingegen nicht. Denn die Ermordung Jassins wird die Entschlossenheit von Hamas nicht schwächen – eher im Gegenteil.
Ist Jassins Tod denn ein organisatorisches Problem für Hamas?
Hamas ist gut für eine solche Krise gerüstet – wenn man das Ganze überhaupt als eine Krise für Hamas bezeichnen kann. Stellen wir uns mal vor, Israel hätte nicht Scheich Jassin, sondern Jassir Arafat umgebracht. Arafats Tod hätte katastrophale Auswirkungen auf die Fatah. Es würde sich sogar die Frage stellen, ob die Fatah ohne Arafat überleben kann. Denn seit drei Jahren erleben wir die systematische Fragmentierung der Fatah in politische, militärische, linke und rechte Untergruppierungen mit lokalen Machtbasen, die teilweise nur noch durch die persönliche Loyalität zu Arafat zusammengehalten werden. Dieses Problem hat Hamas nicht.
Also wird Jassins Tod Hamas noch stärker machen?
Ja. Hamas ist – zumindest erst mal – in Palästina fast unantastbar. Niemand wird es nun mehr wagen, gegen Hamas aufzubegehren – egal wie die Antwort auf die Ermordung Jassins ausfallen wird. Die Ironie dabei ist, dass Hamas wahrscheinlich sehr brutal zurückschlagen wird und dass dann Arafat dafür verantwortlich gemacht wird.
Wie schätzen Sie die langfristige Wirkung des Todes von Jassin auf Hamas ein?
Wahrscheinlicher ist nun die Formierung einer kollektiven Führung, in der Hamas-Führer aus dem Exil in Jordanien und Syrien stärker sein werden, weil diese weiter weg vom israelischen Operationsradius agieren können. Die Hamas-Führer im Exil gelten als weniger pragmatisch, daher kann dies zu einer Radikalisierung führen. Zweitens wird es für Hamas langfristig eine Herausforderung, die jetzige überschwengliche Unterstützung in politisches und institutionelles Kapital umzusetzen.
Es gab immer wieder Diskussionen bei Hamas über einen Waffenstillstand. Ist das endgültig vorbei?
Es gab nicht nur Diskussionen. Letzten Sommer hat Hamas einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen. Das steht nun nicht mehr auf der Tagesordnung – übrigens bei keiner palästinensischen Gruppierung.
Was passiert, wenn die israelische Regierung noch weitere Hamas-Führungsmitglieder ermorden lässt?
Auch das wird die Radikalisierung befördern. In den 90ern gab es große Unterschiede in der Hamas-Führung, seit dem Scheitern von Oslo haben sich die Flügel wieder angenähert. Vor zehn Jahren gab es Hamasführer wie Abu Schanab, der für eine Zweistaatenlösung und die Anerkennung Israels war. Er ist im August 2003 auf die gleiche Weise wie Jassin umgebracht worden. Moderate Hamas-Führer zu liquidieren hat zweifelsohne radikalisierende Effekte.
Die EU schwankt in ihrem Blick auf Hamas: Hamas steht auf der Terrorliste – andererseits hält sich die EU Gesprächskanäle offen. Was ist richtig?
Die Europäer müssen anerkennen, dass Hamas eine authentische national-palästinensische Bewegung darstellt. Was immer man über ihre Ideologie und Aktionen denkt – Hamas repräsentiert etwa ein Fünftel der Palästinenser. Sie als Terroristen einzustufen ist kontraproduktiv. Die Eliminierung von Hamas kann nie militärisch erreicht werden. Das macht es umso wichtiger, eine politische Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt zu finden. Je länger man wartet, desto schwieriger wird es. Wenn die Eskalation so weitergeht, wird es einen Zeitpunkt geben, an dem ein eigenständiger palästinensischer Staat und Frieden in Nahost von der Tagesordnung verschwunden sein werden. INTERVIEW:
KARIM EL-GAWHARY
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