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Archiv-Artikel

Jagd auf den „Koma-Schläger“

Im Berufungsverfahren gegen Erdinc S. wird heute das Urteil erwartet. Der Boulevard macht Stimmung gegen den Deutsch-Türken und die „Kuschel-Juristen“

KÖLN taz ■ Der öffentliche Erwartungsdruck ist hoch. In der Berufungsverhandlung gegen den als „Koma-Schäger“ bekannt gewordenen Erdinc S. vor der 4. Großen Strafkammer des Kölner Landgerichts wird am heutigen Freitag das Urteil gesprochen. In der ersten Instanz war der 18-jährige Deutsche türkischer Herkunft zwar wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden, konnte jedoch mit einem Strafvorbehalt den Gerichtssaal als freier Mann verlassen.

Das vermeintlich milde Urteil des Jugendrichters Hans-Werner Riehe hatte auch über die Stadtgrenzen Kölns hinaus für Empörung gesorgt. Die Boulevardblätter wetterten gegen „Richter Butterweich“ und „Kuschel-Juristen“. Der Ausgang des Prozesses wirke „wie ein Sprengsatz gegen die Fundamente unseres Zusammenlebens“, kommentierte der Kölner Stadt-Anzeiger. Die Staatsanwaltschaft hatte dreieinhalb Jahre Haft gefordert.

Die Tat geschah zu Weiberfastnacht 2007 im Kölner Stadtteil Ostheim. Zusammen mit den vier Kindern seiner damaligen Lebensgefährtin befand sich der Erwerbslose Waldemar W. auf dem Heimweg von einer Karnevalsfeier, als er auf Erdinc S. traf. Es kam zu einem Streit. Dann schlug Erdinc S. zu. Waldemar W. stürzte gegen die Glasscheibe einer Telefonzelle und verletzte sich dabei so schwer, dass er wochenlang im Koma lag. Die Ärzte attestierten ein „Schädelhirntrauma mit Gehirneinblutungen“. In den medizinischen Gutachten ist von „dauerhaften hirnorganischen Schäden“ die Rede.

Weil der Angeklagte zur Tatzeit noch minderjährig war, fand auch diesmal die auf sechs Prozesstage angesetzte Berufungsverhandlung vollständig hinter verschlossenen Türen statt. Dass das Landgericht zu einem gänzlich anderen Ergebnis kommt als die so arg gescholtene Vorinstanz ist dabei noch nicht ausgemacht. „Im Gegensatz zum allgemeinen Strafrecht, das die Schuldvergeltung in den Mittelpunkt rückt, soll das Jugendstrafrecht die soziale Integration fördern und dadurch präventiv wirken“, erläutert Professor Michael Walter. „Die Empörung wäre bei einer besseren Information über die rechtlichen Grundlagen und die praktischen Konsequenzen der jugendrichterlichen Entscheidung von damals nicht entstanden“, sagt der Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Köln der taz.

Entgegen dem öffentlichen Eindruck habe Richter Riehe den Täter keineswegs einfach straffrei ausgehen lassen, so Walter. Vielmehr habe er sich eine Besonderheit des Jugendstrafrechts zunutze gemacht: Laut Paragraf 27 des Jugendgerichtsgesetzes ist es möglich, die Entscheidung über eine Strafe aufzuschieben. Ein halbes Jahr sollte beobachtet werden, wie sich Erdinc S. entwickelt und ob eine Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen erforderlich ist. Zu den Auflagen gehörte, dass er sich in dieser Zeit straffrei führt und einer psychotherapeutischen Untersuchung unterzieht. Außerdem müsse er ein Anti-Aggressionstraining absolvieren.

Das allerdings scheint mehr als nötig: Mittlerweile sind schon wieder zwei Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung hinzugekommen. So geriet Erdinc S. bereits im Juni erneut in eine Schlägerei. Im August soll er dann am Deutzer Bahnhof ein homosexuelles Paar attackiert haben. Wer zuerst zuschlug, ist auch hier zwischen den beiden Parteien strittig.

Inzwischen sitzt Erdinc S. wieder in Untersuchungshaft. Dass er seine Aggressionen nicht unter Kontrolle hat, räumt auch sein Verteidiger Andreas Bartholomé ein: „Das ist letztlich etwas, was er nicht beherrscht.“ Trotzdem hofft er auf eine Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils: „Es war eine komplizierte Entscheidung, aber sie war richtig.“ PASCAL BEUCKER