: Jenseits der Kontrolle
In Biblis gibt es inzwischen 210 Sicherheitsmängel, die zum Teil katastrophale Konsequenzen haben könnten
Biblis A ging 1975 ans Netz, Biblis B folgte 1977. Der hessische Wirtschaftsminister hielt seinerzeit zwei weitere Blöcke für nötig. Gegen Biblis C erhoben 55.000 BürgerInnen Einwendungen. Das Genehmigungsverfahren für Block C wurde dann abgebrochen. 1980 stellte RWE erneut einen Genehmigungsantrag, nach 26.000 Einwendungen beantragte der Konzern 1984, das Verfahren ruhen zu lassen. 1994 verkündete der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer, Biblis C sei nicht genehmigungsfähig . Wegen fehlerhaft montierter Dübel blieben Biblis A und B von 2006 an über ein Jahr abgeschaltet.
Wie das 1995 per Gerichtsbeschluss stillgelegte Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich steht auch Biblis in einem Erdbebengebiet. Nur wenige Kilometer entfernt kam es, noch vor dem Bau des riesigen Meilers, zu zwei mittelschweren Erdbeben. In den Neunzigerjahren registrierten Seismologen am Standort Biblis zwei Mikroerdbeben. Das gilt als Beweis für den aktiven Untergrund. Offiziell hält Biblis B Erdbeschleunigungen von 1,5 m/s aus, für Biblis C empfahl der gleiche Gutachter schon einen Schutz gegen Beschleunigungen von 2 m/s.
Tatsächlich rechnen muss man in Biblis nach Aussage von Fachleuten mit deutlich stärkeren Stößen. Nach Ansicht des hessischen Umweltministeriums reicht es aber aus, wenn Biblis B die schwächere Hälfte der Beben ohne Schaden übersteht. Im Fall Mülheim-Kärlich hielten die Gerichte diesen Schutz für nicht ausreichend: Sie verlangten eine Absicherung gegen mindestens 84 Prozent der Erdstöße.
Gleichermaßen real ist, dass bei einer Kernschmelze große Mengen Wasserstoff entstehen. Eine Explosion könnte den in Biblis B besonders schwachen Sicherheitsbehälter zerstören.
Um die Explosionsgefahr zu mindern, rüstete der Betreiber RWE den Reaktor mit sogenannten Rekombinatoren nach, die den Wasserstoff katalytisch abbauen sollen. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) wies allerdings nach, dass diese Katalysatoren beim Betrieb „bauartbedingt“ bis zu 500 Grad Celsius heiß werden – und dann das gefährliche Knallgasgemisch von selbst zünden könnten.
Ein weiteres Risiko für Biblis stellt der nur wenige Kilometer entfernte Frankfurter Flughafen dar. Gleichwohl ist der Kraftwerksbau nicht gegen den Absturz schwerer Militär- oder Passagierflugzeuge geschützt. RWE und Behörden zählen Flugzeugabstürze zum „Restrisiko“. Das sind laut Bundesverfassungsgericht Szenarien „jenseits der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens“.
Wahrscheinlicher wäre ein kompletter Stromausfall innerhalb des Atomkraftwerks, der „Station Blackout“. Ein solches Ereignis gehört zu den gefährlichsten Ereignissen beim Betrieb eines Reaktors. Ohne Strom fällt dessen Kühlung aus, der Kern überhitzt sich, es kommt zur Schmelze. Ursache der Stromausfälle sind oftmals banale Ereignisse: zum Beispiel ein Unwetter wie am 8. Februar 2004. Damals wurde Block B vom Netz getrennt, die Umschaltung auf Eigenversorgung misslang, der „Notstromfall“ trat ein.
Zwar sicherten in diesem Fall Dieselaggregate die Stromzufuhr, um den Reaktor zu kühlen und zu steuern. Aber die Diesel-Generatoren gelten als unzuverlässig: In den vergangenen zehn Jahren meldete RWE entdeckte Ausfälle im Block von Biblis B.
Der Betrieb eines Atomkraftwerks kann zudem unkontrollierbar werden, wenn zu wenig Ersatzkühlmittel zur Verfügung steht. Der TÜV Nord bemängelte, dass es hierbei zu einer „früheren Kernfreilegung“ kommen kann. Experimente des Unternehmens Siemens haben gezeigt, dass selbst Störfälle aufgrund von nur kleinen Lecks im Kühlkreislauf in Biblis B nicht zu beherrschen sind.
Zu den gefürchtetsten Störungen in einem Atomkraftwerk zählen Lecks in den Heizrohren der Dampferzeuger. Durch diese Löcher tritt radioaktiver Dampf aus dem Primärkühlkreislauf aus. Der Reaktor muss in einem solchen Fall sehr schnell abgeschaltet werden. Bei dem „komplexen Abfahrvorgang drohen laut TÜV im Atomkraftwerk Biblis B jedoch „zusätzliche Störungen“ mit weiteren gefährlichen Folgen. SIM