: Wenn ich will, kann ich alles
Eine riesige, bunte Collage, die gerade erst mit Klebeband in Form gebracht worden ist: „Stereo Total“ sind aus der Zeit gefallen, das aber sehr charmant
von Marc Peschke
Stereo Total setzen gerne mal dicke Ausrufezeichen hinter ihren Namen – hinter einen Namen, der dabei noch nicht einmal zeitgemäß ist. Denn mal ehrlich: Kann man mit dem Begriff Stereo denn heute noch hausieren gehen? Er ist genauso old fashioned, oder besser: aus der Zeit gefallen, wie das ganze Kreuzberger Kellerunternehmen selbst.
Doch das scheint Stereo Total nicht im Geringsten zu stören. Irgendwann in den frühen 90er Jahren haben sich die französische Sängerin, Künstlerin und Autorin Françoise Cactus und der deutsche Allroundmusiker und passionierte Instrumentenbauer Brezel Göring im Supermarkt kennen gelernt. So will es zumindest die Legende. Seitdem sind sie ein musikalisches Paar, eine skurrile Kreuzberger Hinterhofblüte, die immer prächtiger zu gedeihen scheint. Die als eine Art Reinkarnation von Jane Birkin und Serge Gainsbourg angetreten ist, die kalte Welt mit Liebe zu beseelen.
Einige Alben sind erschienen – das letzte, Musique Automatique, vor drei Jahren. Cactus singt deutsch, englisch, japanisch und italienisch stets mit französischem Akzent, doch bedienen sich die beiden Musiker dabei den Ausdrucksmitteln einer Zeit, in der an offene Grenzen und Europawährung noch kaum zu denken war: Sie spielen sich charmant durch Rock‘n‘Roll-Trash, Chanson, Punk, New Wave und Disko – und es klingt wie eine Mischung aus Seine-Spaziergang und Berliner Hinterhofgeklapper, aus verklemmtem Breakdancewettbewerb in der Provinz und sexueller Libertinage in der Hauptstadt der Gefühle.
Sex ist sowieso ein schönes Thema im Pop. Doch Sex, so meinen Stereo Total, wird immer zu ein- beziehungsweise zweidimensional besungen. Deshalb haben sie auch ein Lied über die Liebe zu dritt aufgenommen. Françoise Cactus singt es auf Musique Automatique: „Ich liebe es, Liebe zu machen, am liebsten zu dritt! Das ist total out, das ist Hippie-Shit, aber ich sage es laut: Ich liebe Liebe zu dritt! Ist der eine müde, ist der andere fit, bei der Liebe zu dritt!“
Mit Cactus‘ Fieberträumen vereinigt sich das musikalische Feuer Brezel Görings kongenial, der wie immer so ziemlich alles zwischen Bontempi-Orgel, Begleitautomatik und Beatgitarre drauf hat. Mit Verve (und Fortune) bedient er seine unzähligen Orgelschätze und Rhythmusmaschinen, seine selbst gebastelten Pappgitarren, und gibt gerne auch mal den Anheizer, der immer währende Tanzrebellion von seinem Publikum fordert. Rauh, kantig und voller Risse ist die Musik von Stereo Total. Synthesizer klingen wie verzerrte Gitarren, dazu rumpelt ein Schlagzeug im Viervierteltakt. Brezel Göring hopst über die Bühne, Cactus lächelt dazu, trommelt das Schlagzeug, singt oder kramt in ihrer großen Handtasche.
Man kann von Stereo Total genervt sein, man muss sie nicht lieben. Aber zugeben werden auch die ärgsten Nörgler: Sie sind ziemlich einzigartig. Ihre Musik ist wie eine riesige, bunte Collage, die gerade erst mit Klebeband in Form gebracht worden ist. Bei Stereo Total mischen sich Universalismus und Bohème zu einem Glücksversprechen, das sich quer stellt zum öden Spezialistentum: Wenn ich will, kann ich einfach alles: Bilder malen, Musik machen, Bücher schreiben.
Apropos Bücher schreiben: In diesen Tagen erscheint Cactus‘ neues Opus im Rowohlt Verlag. Es trägt den denkwürdigen Titel Neurosen zum Valentinstag und beginnt mit einem Zitat von Andy Warhol: „Alle haben immer irgendein Problem, und wenn‘s auch ist, dass die Toilettenspülung nicht funktioniert“, sagt Warhol und hat natürlich Recht damit.
Das Gute an Cactus‘ Buch ist: Die Autorin weiß, dass man die meisten Probleme nicht beheben kann. Dafür kann man aber wundervoll über die Neurosen schreiben, die sich aus ihnen ergeben. Trotzdem ist Neurosen zum Valentinstag kein trauriges Buch, im Gegenteil. Es ist proppevoll von wunderschön blinkenden Sätzen wie „Die Moden von gestern sind die Paradiesvorstellungen von heute.“ Und noch besser: „Stehst Du demnächst wieder auf der Bühne? Wahrscheinlich spiele ich das Huhn in ,Die Zukunft liegt in den Eiern‘. Wie spannend! Sag Bescheid, wenn es so weit ist!“
28.3. Hamburg, Fabrik, 21 Uhr; 29.3. Hannover, Faust, 19.30 Uhr