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Archiv-Artikel

Biomüll pflastert ihren Weg

Außerdem sind schon wieder die gelben Tonnen voll! Über die schleichende Kreuzbergisierung Neuköllns

Schon wieder sind neue Mieter zugezogen. Die Fluktuation war hier immer groß – gutes Haus in schlechter Gegend, viele Einzimmerwohnungen, preisgünstig für den Komfort. Die Entwicklung war bereits länger absehbar: eine schleichende Entneuköllnisierung, abzulesen an Füllstand und vor allem Füllart der gelben Tonnen, doch jetzt scheint ein neuer Höhepunkt erreicht. Ich stehe im Hof bei den Mülltonnen, mit der bitteren Gewissheit, dass die Mieterstruktur in diesem Haus endgültig gekippt ist.

Die gelben Tonnen sind voll. Nicht mit Papier und nicht mit Schnapsflaschen, nicht mit Misch- oder Biomüll und nicht mit frisch entbundenen Kindern. Sie sind voll mit typischem Gelbe-Tonnen-Müll, was auch immer das sein mag – zwölf Jahre Neukölln haben aus meinem Kopf überflüssiges Wissen getilgt und Platz für neues geschaffen.

Ich hatte damals nach meinem Einzug, verstockt wie eine alte Jungfer, noch zwei Wochen lang meinen Müll getrennt weggeworfen, bis ich den Anblick der feixend in den Fenstern hängenden Mitbewohner leid war. Rasch freundete ich mich mit der hiesigen Lebensweise an, die einzigartig Ergonomie, Savoir-vivre und Ökonomie unter geschickter Ausklammerung der lästigen und lebensfeindlichen Ökologie zu verbinden versteht. Wenn ich heute mittags rasch in Unterhosen über die Straße und in den „Oker-Markt“ husche, um Schrippen und Bier zu holen, schmunzle ich oft in Erinnerung an meine frühere Verklemmtheit. Und jetzt sind die gelben Tonnen voll. Davor steht, fein säuberlich sortiert und gestapelt, noch mehr Müll, Plastikmüll. Sogar ausgewaschen ist das Zeug, doch umso schlimmer verströmt es den ätzenden Gestank hochgiftiger Moralinsäure. Puh! Es ist wohl so weit: Die Kreuzberger sind da!

Sie haben nicht nur ihren Sondermüll mitgebracht, sondern obendrein ihre Bioläden und ihr Holzspielzeug. Und natürlich ist weder dieses Haus noch die BSR auf sie eingerichtet: Hier stehen zwei gelbe Tonnen herum für zwei Vorderhäuser und ein Quergebäude. Das müssen die machen – das ist halt Gesetz, so widersinnig es in dieser Gegend auch ist. Man konfrontiert uns immer mehr mit unsinnigen Normen, anstatt auf die Eigenheiten der jeweiligen Bevölkerung einzugehen. Und am Ende fliegt uns dann die ganze gefährlich gleich gemachte EU-Scheiße mit einem Riesenknall um die Ohren, so wie Exjugoslawien. Lasst doch den Polen ihren Räucherkäse und den Neuköllnern ihre grauen Tonnen – es gibt einfach Wesentlicheres! Aber nein, hier werden einer Kultur ihr völlig fremde Gebräuche aufgepfropft, überdies ganz offensichtliche Scheinangebote, denn nähme man sie wirklich ernst, reichten die zwei Tonnen sowieso niemals aus – das sieht man ja jetzt, wo die Kreuzberger alles voll müllen.

Um den Kreuzberger zu foppen und lehrreich auf sein Fehlverhalten hinzuweisen, zog ich einmal eine andere typische Pro-forma-Option: Ein junger, frisch aus der Provinz zugezogener Nachbar, den ich verdächtigte, eigentlich ein latenter Kreuzberger zu sein, feierte Geburtstag und bat auf einem Aushang, den Lärm zu entschuldigen und „einfach mitzufeiern“; so etwas ist doch nie ernst gemeint, sondern bloß synonym für „Leck mich am Arsch“ – das versteht sogar der Kreuzberger. Nichtsdestotrotz klingelte ich, in den frühen Morgenstunden von einem anderen Fest nach Hause kommend, zum Mitfeiern an seiner Tür. Er hatte mich noch nie zuvor gesehen und staunte nicht schlecht, als ich an ihm vorbeimarschierte und erklärte, er könne noch froh sein, dass ich nicht die kurdisch-libanesische Großfamilie aus dem Nachbarhaus wäre. Er war froh und gab mir ein Bier. Ich setzte mich hin, langweilte mich und die anderen Gäste und verstand immer weniger, warum er mich eingeladen hatte.

Seufzend werfe ich ein paar leere Batterien in den Biomüll. Im zweiten Stock bewegt sich ein Vorhang – das müssen die Kreuzberger sein! Sie beobachten mich wieder mit ihrem selbst gebastelten Holzfernglas: Sie studieren unsere Gewohnheiten, um sich unerkannt unter uns zu mischen und so leichter verdrängen zu können. Wenn sie das geschafft haben, wird erst hier eine dritte gelbe Tonne angeschafft, dann dort eine vierte und irgendwann ist überall Kreuzberg

ULI HANNEMANN