: Gegen die Wand
Weil Jobverlust droht, machen sich viele Berliner übereilt selbstständig. Folge: Sie verschulden sich oder leben am Limit. Das hilfreiche Insolvenzrecht kennen die wenigsten. Beispiel Kottbusser Damm
VON MARTIN KAUL
Während sich die Experten der Republik ab heute auf dem ersten Deutschen Insolvenzrechtstag mit Fachfragen zu Insolvenzregelungen auseinander setzen, drückt viele Einzelhändler der Schuh ganz abseits der Theorie. Ein Spaziergang am Kottbusser Damm fördert ein Stimmungsbild zutage, in dem „Räumungsverkauf“ eine wesentlich deutlichere Sprache spricht als etwaige Insolvenzregelungen. Denn damit kennt sich hinter den Ladentheken niemand aus, wohl aber mit der Angst um die eigene Zukunft. Dabei ist es häufig vor allem Informationsmangel, der die Unternehmer in die Pleite treibt.
Wer das Geschäftstreiben am Kottbusser Damm beobachtet, stellt fest: Häufig überstehen Geschäfte noch nicht mal ihre ersten Monate. Das Schicksal der Kleinunternehmer ist Bahattin Kaya, dem Vorsitzenden der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung Berlin-Brandenburg, gut bekannt: „Gerade im Moment machen sich viele Menschen aus Angst vor Arbeitslosigkeit übereilt selbstständig – und gehen bereits nach einigen Wochen Pleite.“ Den Grund dafür sieht Kaya in einem Informationsdefizit: „Viele informieren sich nicht gründlich über Risiken und Fördermöglichkeiten.“ Diese stünden zur Genüge zur Verfügung. Nur sei der Unternehmer gefragt, den ersten Schritt zur Beratung zu gehen. Solange der nichts von seinen Möglichkeiten wisse, „sind die Probleme vorprogrammiert“, so Kaya.
Susanne Schmitt-Wollschläger, Bereichsleiterin für Unternehmensgründung, -führung und -nachfolge bei der Berliner Industrie- und Handelskammer, sieht das Problem ähnlich gelagert: Die „irrsinnige Auswahl“ an Beratungsmöglichkeiten in Berlin werde schlicht zu wenig genutzt. „Viele fragen sich leider nicht gründlich genug, was es bedeutet, selbstständig zu sein“, sagt Schmitt-Wollschläger – und spricht von „Notgründungen aus Angst vor Arbeitslosigkeit“.
Dass dieser Schritt gerade in Zeiten geringer Kaufkraft fatale Folgen haben kann, erlebt zurzeit Van Son Nguyen. Am Schaufenster seines Ladens prangt in großen Lettern „Räumungsverkauf“. Der 47-Jährige verkauft seine letzten Waren zu Dumpingpreisen. Nachdem der Hausbesitzer nicht bereit war, die Miete zu senken, bleibt ihm nur Resignation: „Der redet von guter Verkaufslage. Die nützt aber nichts, wenn die Leute kein Geld haben.“ Ganze drei Jahre konnte er sein Geschäft halten. Sicherheiten hat er nun keine mehr. Demnächst geht Ngyuen wieder zum Arbeitsamt.
Einige Meter weiter betreibt Udo Hast ein Reformhaus. Er ist noch einer der wenigen am Kottbusser Damm, die ihr Geschäft über die Jahre retten konnten. Seit 14 Jahren steht er in seinem Laden. Jetzt klagt er über „Umsatzrückgänge, die man kaum kompensieren kann“ und eine „schier katastrophale Situation im Kiez“. Hätte sein Hauswirt ihm nicht die Miete um 20 Prozent gesenkt – er hätte schon längst räumen müssen.
Michael Heidelberger weiß, was das bedeutet. Der 29-Jährige hatte sich in Brandenburg mit einem Matratzengeschäft und -großhandel selbstständig gemacht. Nachdem er erfahren hat, „wie die Banken einen allein lassen“, steht er nun als Angestellter im Geschäft am Kottbusser Damm. Nebenan hat Bülent Seyla mit ihrem Mann erst vor anderthalb Monaten ein neues Textilgeschäft eröffnet. Das wurde nötig, nachdem der Stand auf dem Markt nicht mehr existenzsichernd war: „Dort verkaufen wir an manchen Tagen gar nichts.“ Der Laden ist die Hoffnung auf ein zweites Standbein, doch: „Von dem, was hier im Moment in die Kasse kommt, kann man nicht leben“, sagt sie. Sie und ihr Mann wollen es „nun ein paar Monate probieren“.
„Keine Kredite, keine Unterstützung und eigenes Risiko“, so beschreibt Textilwarenhändler Qadri Hassan Raza die Umstände, unter denen er sein Geschäft führt. Er ist „immer wieder darauf angewiesen, zu Minuspreisen zu verkaufen“.
Die Unternehmensinsolvenz hilft hier nur wenig. Zwar kann laut Horst Piepenburg, Vorsitzendem der AG Insolvenzrecht und Sanierung im Deutschen Anwaltverein, der den heutigen Kongress in Berlin organisiert, „theoretisch jeder“ durch einen Insolvenzplan alte Schulden abkappen. „Benötigt wird dazu aber eine Perspektive.“ Und die haben die Einzelhändler selten – wenn sie nicht gerade wie das Lotto-Büdchen am Eck neben Fernsehzeitungen auch noch argentinischen Mate-Tee verkaufen, „um überstehen zu können“.
Wer solche Ideen nicht hat, der stolpert schnell in die Schuldenfalle, wenn etwa der Mietvertrag noch eine lange Restlaufzeit hat. Unternehmervereinschef Kaya: „Ich kenne einige, die sofort aufgeben würden, wenn sie nur könnten. Stattdessen leben sie permanent am Limit.“ Hier hilft sie dann doch, die Insolvenz. Denn was viele Unternehmer gar nicht wissen: Bisweilen kann sie entlasten; spätestens dann, wenn der Mietvertrag der einzige Grund ist, den Laden zu halten, oder die Verschuldung schon immens ist. Dumm ist es da nicht, schon mal vom „Restschuldbefreiungsverfahren“ gehört zu haben. Um wenigstens eine persönliche Perspektive zu erhalten. Die erfordert – in Insolvenzrechtssprache – allerdings eines: 6 Jahre „Wohlverhalten“.